Der digitale Aufreger
If it bleeds, it leads: Schlagzeilen mit viel Blut sind gut für die Auflage. Der Satz spitzt eine alte Zeitungsmacherregel vom „Aufreger“ zu, mit der vor allem Boulevard-Medien lange Zeit noch gegen bröselnde Auflagen ankämpften. Heute bestimmen zwar nicht mehr Printverkäufe den Nachrichtenmarkt, sondern die Reichweite von Onlinemedien und Sozialen Netzwerken. Doch damit ist der Kampf um Aufmerksamkeit eher noch härter geworden. Es gibt Statistiken, denen zufolge sich die durchschnittlichen Verweilzeiten eines Nutzers auch auf den wichtigsten Nachrichtenportalen in Minuten bemessen – pro Monat. Was bedeutet das für die Leseransprache?
Die alte Boulevard-Regel mag von gestern sein, gefühlt aus der Zeit der Schreibmaschine. Aber gibt es dafür nicht heute eine – vielleicht weniger explizite – Entsprechung? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der LMU sowie aus New York, Zürich, Stockholm und Gießen haben die Frage danach sozusagen auf eine zeitgemäße Variante heruntergebrochen: Steigert es die Klickzahlen, wenn Schlagzeilen gespickt sind mit negativen Vokabeln, gleichsam mit Aufregung angefüttert? Ihre Antwort ist rundheraus: Ja.
Zu diesem Ergebnis kommen die Forschenden im Übrigen ausgerechnet mit Datensätzen des Portals Upworthy.com, das damit angetreten ist, vor allem die positiven und die guten Nachrichten zu bringen. „Eine kleine Ironie“, sagt Professor Stefan Feuerriegel, Direktor des Institute of AI in Management an der LMU und einer der beiden Hauptautoren der Untersuchung.
Traurigkeit war gut für Klicks
Für ihre Auswertung mithilfe von datenwissenschaftlichen Methoden wie Text Mining allerdings konnten sie mit dem Upworthy Research Archive auf einen einzigartigen Datenschatz zurückgreifen: Über Jahre hatte die Plattform mit ihren Headlines experimentiert und jeweils verschiedene Varianten über ihre Texte getestet – insgesamt mehr als 100.000 Schlagzeilen, die zusammen rund eine halbe Milliarde Seitenansichten und fast sechs Millionen Klicks generierten. Upworthy.com gehörte schließlich zu den besonders häufig besuchten Medienportalen, mittlerweile hat sich seine damals neue Machart womöglich etwas abgenutzt. Über ein halbes Jahrzehnt aber hatte es mehr Klicks zu verzeichnen als die Website der New York Times und war in dieser Zeit Feuerriegel zufolge die am schnellsten wachsende Medienseite überhaupt.
Die Klickraten variierten zwischen null und knapp 15 Prozent (Klicks gemessen an der Zahl der Impressions). Im Schnitt, so ermittelten die Forscher, konnte schon ein einziges negatives Buzzword die Klickrate deutlich steigern, von etwa 1,4 auf 2,3 Prozent. Wohlgemerkt geht es da um eher harmlose Vokabeln wie „wrong“, „bad“ oder „awful“. „Positive“ Wörter wie „love“, „pretty“ und „beautiful“ animierten die Leser weniger. Längere Titelzeilen – mit potenziell mehreren Negativ-Vokabeln – steigerten die Klickraten. Höhere Komplexität war eher abträglich. Sprachen die Titelzeilen Emotionen an, ließen sich ebenfalls Effekte verzeichnen: Traurigkeit war gut für Klicks, Freude weniger; Wut dagegen lieferte erstaunlicherweise uneindeutige Ergebnisse.
Je nach Themenfeld allerdings war der Effekt von Negativ-Vokabeln unterschiedlich groß. Am stärksten war er für Nachrichten aus den Bereichen Politik und Wirtschaft, aber auch in den für Upworthy typischen Themenfeldern „Leute“, „Erziehung und Schule“ und „LGBT“ war er deutlich sichtbar, weniger dagegen bei „Unterhaltung“ und „Frauenrechte und Feminismus“.
Das Besondere der Untersuchung sieht Feuerriegel vor allem auch darin, dass sie nicht die in Kommentaren und Links ausgestellte Aufmerksamkeit zeigt, sondern den privaten News-Konsum, deutlich macht, welche Geschichten die Leser aus reinem Interesse anklicken.
Kooperation statt Konkurrenz
Eine ganz eigene Geschichte ist im Übrigen die Publikation der Arbeit. Erst als Feuerriegel und sein Team eine erste Version des Fachartikels bei Nature Human Behaviour einreichten, bekamen sie Kenntnis davon, dass eine Forschungsgruppe um Jay Van Bavel von der New York University ebenfalls eine Arbeit eingereicht hatte – in derselben Woche, mit derselben Fragestellung, auf Basis desselben Datensatzes von Upworthy.com, mit fast identischen Ergebnissen. Statt in Konkurrenz zu gehen, entschieden sich die beiden Teams zur Kooperation und einer gemeinsamen Fassung. „Das hat unsere Ergebnisse – nicht zuletzt durch die damit gegebene Interdisziplinarität von Psychologen und Computerwissenschaftlern – insgesamt abgerundet“, sagt Feuerriegel.