Junge Menschen in Europa: Müde – aber zuversichtlich
Die Lebenssituation für junge Menschen in Europa hat sich durch die Pandemie deutlich verschlechtert, dennoch schaut die Generation der unter 26-Jährigen mehrheitlich optimistisch in die Zukunft. In Spanien, Italien und Polen sinkt der Anteil der Optimisten in den letzten Jahren jedoch deutlich. Das zeigen die Ergebnisse der fünften repräsentativen Jugendstudie „Junges Europa“ der TUI Stiftung, die heute in Berlin vorgestellt wird. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov befragte dazu im April 2021 6253 Menschen zwischen 16 und 26 Jahren in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Polen.
Auf die Frage, wie sie ihren momentanen Gefühlszustand beschreiben würden, antwortete nahezu jede:r zweite Befragte eher negativ, zum Beispiel mit „müde“, „unsicher“, „genervt“ und „gestresst“. Mehr als die Hälfte (52 Prozent) gab an, ihre Lebenssituation habe sich verschlechtert, in Deutschland waren es 46 Prozent. Ganz konkret bedeutet das: Vier von zehn jungen Menschen zwischen 16 und 26 Jahren (39 Prozent) verloren in den vergangenen Monaten der Pandemie ihren Job oder erlitten finanzielle Einbußen. In Deutschland waren es 29 Prozent, die angaben, von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit betroffen gewesen zu sein, in Griechenland sogar 58 Prozent.
Die Befragten fühlen sich in allen Lebensbereichen stark belastet und befürchten, dass dies auch vorerst so bleibt. Am schwierigsten (72 Prozent) empfinden die jungen Menschen die Beschränkungen im öffentlichen und sozialen Leben – z.B. reduzierte Kontaktmöglichkeiten mit Freunden und Familie oder geschlossene Geschäfte und Sportvereine. 60 Prozent von ihnen sorgen sich, dass die Belastungen in diesen Bereichen auch in Zukunft hoch blieben.
„Es ist beeindruckend, mit welchem Optimismus die 16- bis 26-Jährigen in Europa in die Zukunft nach Corona blicken. Bezogen auf die eigene Situation sind 64 Prozent der jungen Europäerinnen und Europäer eher optimistisch eingestellt. Mit besonders viel Optimismus schaut die junge Generation in Griechenland (74 Prozent), Großbritannien und Deutschland (je 66 Prozent) in die Zukunft,“ sagt Thomas Ellerbeck, Vorsitzender des Kuratoriums der TUI Stiftung. „Die jungen Europäerinnen und Europäer haben viele Einschränkungen erlebt, in der Schule, bei Studium, Sport und Treffen im Freundeskreis. Gleichzeitig ist ihre Grundstimmung und Motivation positiv. Das kann für einen enormen Schub nach der Corona-Zeit sorgen – in der Wirtschaft, im gesellschaftlichen Engagement und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Gemeinsam Verantwortung übernehmen haben wir während Corona gelernt, gemeinsam neue Chancen erkennen und nutzen, ist jetzt am Ende der Pandemie wichtig.“
Junge Europäer:innen folgen Corona-Regeln
Während der Pandemie verhalten sich die jungen Erwachsenen überwiegend regelkonform: Nur knapp ein Fünftel (19 Prozent) aller befragten Europäer:innen gab an, gesetzliche Maßnahmen und Empfehlungen zu ignorieren. Spanier:innen und Italiener:innen halten sich am striktesten an die Vorgaben. Wer sich an die Regeln hält, tut dies vor allem, um die Gesundheit der anderen zu schützen (76 Prozent). Das eigene Wohlsein steht für 54 Prozent der jungen Europäer:innen im Vordergrund.
Dabei zeigt sich für Deutschland, dass sich die Bewertung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie seit Herbst letzten Jahres deutlich verändert hat. Im September 2020 hielten noch 52 Prozent der Befragten die getroffenen Maßnahmen für „angemessen“, 18 Prozent von ihnen für „eher nicht ausreichend“ und fünf Prozent für „nicht ausreichend“. Im April 2021 – zu einem Zeitpunkt, als die Infektionszahlen erneut stiegen in Deutschland – bewerteten dagegen mehr als der Hälfte der befragten 16- bis 26-jährigen Deutschen die Maßnahmen für nicht ausreichend (54 Prozent). Lediglich 16 Prozent der Befragten bewertete sie als „angemessen“.
Dem Pandemie-Management der Europäischen Union stellt die Mehrheit der jungen Europäer:innen ein bestenfalls mittelmäßiges Zeugnis aus (40 Prozent „mittelmäßig“). 31 Prozent bewerten es als „schlecht“ und nur 16 Prozent mit „gut“.
Drängendste Probleme: Umweltschutz, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik
Die Gesundheitspolitik gehört erstmals seit dem Start der Jugendstudie der TUI Stiftung im Jahr 2017 zu den drängendsten Problemen der EU. 28 Prozent aller Befragten in den sieben europäischen Ländern betrachten das Thema als besonders drängend. Angesichts der nun seit 15 Monaten andauernden Pandemie ist das wenig überraschend. Wie schon im vergangenen Jahr führt der Umwelt- und Klimaschutz diese Liste an (41 Prozent aller Befragten), vor der Wirtschafts- und Finanzpolitik (32 Prozent) sowie Migration und Asyl (31 Prozent). Für die jungen Deutschen ist im europäischen Vergleich der Klimaschutz besonders wichtig: Mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent) gab an, es sei das herausragende politische Problem in der EU. Danach folgt Migration und Asyl mit 33 Prozent, anschließend Gesundheitspolitik mit 32 Prozent. Zudem wird von den jungen Deutschen das Thema Digitalisierung als besonders drängend für die EU (21 Prozent, der europäische Durchschnitt liegt bei sieben Prozent) und im eigenen Land betrachtet (30 Prozent).
Mit Blick auf die Politikgestaltung haben junge Europäer:innen eigene Vorstellungen. 44 Prozent finden, dass die Bekämpfung des Klimawandels Vorrang vor Wirtschaftswachstum haben sollte. Zudem würden sie die Rechte von LGBTQ+ Menschen weiter stärken (59 Prozent) und sind für Maßnahmen, um Einkommensunterschiede zu verringern (49 Prozent). Für eine weitergehende europäische Einigung spricht sich ebenfalls eine Mehrheit aus, wobei die stärkste Zustimmung aus Griechenland, Italien, Spanien und Deutschland kommt. Den Status Quo behalten wollen vor allem junge Menschen in Großbritannien und Frankreich.
Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland und Großbritannien für Wählen mit 16
Der Grad des politischen Interesses und des Engagements unterscheidet sich im europäischen Vergleich: In Frankreich (20 Prozent interessieren sich „stark oder sehr stark“), Spanien (31 Prozent), Italien (19 Prozent) und Griechenland (31 Prozent) interessieren sich junge Leute weniger stark für Politik als im europäischen Durchschnitt (33 Prozent). Insgesamt interessieren sich 30 Prozent der Befragten in Europa überhaupt nicht oder wenig für Politik. Die Ergebnisse der Jugendstudie zeigen, dass politisches Interesse noch immer stark von individuellen Ressourcen abhängig ist, also Bildung, Wohlstand, aber auch das Geschlecht. So zeigten sich junge Frauen deutlich seltener politisch interessiert (24 Prozent gegenüber 41 Prozent bei jungen Männern). Besonders hoch ist das politische Interesse dann, wenn Eltern regelmäßig wählen gehen (hier interessieren sich 87 Prozent der Befragten für Politik, gegenüber 71 Prozent bei den Elternhäusern mit niedriger Beteiligung), man sich durch Schule und Ausbildung gut auf das Wählen vorbereitet fühlt (42 Prozent gegenüber 30 Prozent) und das politische System insgesamt als fair betrachtet wird.
Politisches Interesse ist einer der wichtigsten Bestimmungsfaktoren für die Wahrscheinlichkeit, sich an Wahlen zu beteiligen. Ein weiterer ist die Verinnerlichung einer Wahlnorm, wenn also „Wählen als Bürgerpflicht“ gesehen wird. Diese Sichtweise ist unter den befragten jungen Menschen weit verbreitet, 87% von ihnen stimmen ihr zu. Und trotzdem beteiligen sich junge Erwachsene in der Regel nur unterdurchschnittlich an Wahlen.
„Die Gründe für diese Wahlmüdigkeit sind vielfältig, zu den wichtigsten gehört sicher, dass sich bei den Jungen noch keine Gewöhnung an die Wahlteilnahme einstellen konnte. Als Gegenmittel wird oft die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre diskutiert. Erfahrungen aus Österreich, wo junge Menschen mit 16 Jahren an nationalen Wahlen teilnehmen dürfen, zeigen: Wer bereits mit 16 Jahren wählt, dessen Wahrscheinlichkeit liegt höher, sich auch bei zukünftigen Wahlen zu beteiligen. Auch eröffnet das Wählen mit 16 die Möglichkeit, den ersten Wahlgang stärker in den schulischen Alltag und die Ausbildung zu integrieren und damit inhaltlich zu begleiten, was zu einem besseren politischen Bewusstsein der Jugendlichen führt,“ erklärt Marcus Spittler, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er hat die Studie wissenschaftlich begleitet.
Dabei ist das Wählen mit 16 Jahren auch bei jungen Europäer:innen kein Selbstläufer. 36 Prozent von ihnen fänden es besser, wenn auf nationaler und europäischer Ebene bereits mit 16 Jahren gewählt werden könnte. Nur in Großbritannien und Deutschland gibt es eine knappe Mehrheit (54 Prozent Deutschland, 56 Prozent Großbritannien) für die Absenkung des Wahlalters, während in den anderen europäischen Ländern das Bild gemischt ist und nur etwa ein knappes Drittel die Absenkung des Wahlalters begrüßt.
„Junge Europäer:innen sind grundsätzlich an politischen Themen interessiert. Und die Jugendstudie belegt, dass auch sehr junge Menschen ihre politischen Präferenzen genauso gut wie Erwachsene mit den politischen Programmen der Parteien in Einklang bringen können. Sie haben eigene Vorstellungen und Ideen, welche Prioritäten die Politik setzen sollte. Was oft zu fehlen scheint, ist das Selbstbewusstsein, sich in den politischen Dialog einzubringen. Hier muss politische Bildungsarbeit frühzeitig ansetzen,“ sagte Elke Hlawatschek, Geschäftsführerin der TUI Stiftung, bei der Vorstellung der Studie in Berlin.
Bilanz der Kanzlerschaft: Junge Europäer:innen schauen meist positiv auf Arbeit von Angela Merkel
Der Arbeit der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel stellen die europäischen Jugendlichen ein gutes Zeugnis aus. 42 Prozent aller Befragten bewerteten ihre Arbeit als „eher gut oder sehr gut“. In Deutschland waren es mit 56 Prozent mehr als die Hälfte. Nur die jungen Griech:innen waren mit 23 Prozent weniger zufrieden mit Merkel. Mit Blick auf die politische Arbeit von Angela Merkel für die europäische Integration liegen die Werte für eine „eher oder sehr gute“ Arbeit (mit Ausnahme von Polen) in allen Ländern leicht unter denen für die allgemeine politische Arbeit der Kanzlerin. In Deutschland bewerten 50 Prozent der Befragten das europapolitische Engagement der Kanzlerin mit „eher oder sehr gut“ und 16 Prozent mit „eher oder sehr schlecht“.