Digital Washing in Geschäftsberichten?
Autoren des Fachbeitrags: Prof. Dr. Dirk Stein und Prof. Dr. Tobias Kollmann
Haben wir plötzlich eine umfassende Digitalkompetenz in den Führungsetagen unserer deutschen Spitzenunternehmen? Eine aktuelle Studie scheint dies zu belegen, denn der aktuelle DAX DIGITAL MONITOR berichtet, dass 83 % der Vorstände nun über eine digitale Kompetenz verfügen. Auch im Aufsichtsrat gab es einen Schub auf ebenfalls 83 % auf der Arbeitgeber- und 65 % auf der Arbeitnehmerseite. Insbesondere auf der Arbeitnehmerseite wäre dies ein Zuwachs um ca. das 7-fache des Vorjahreswertes. Kann das wirklich sein? Gab es so viele Personalwechsel in den Führungsetagen unserer DAX40-Unternehmen? Ein anderer Verdacht liegt da näher und er lautet: Digital Washing.
Der DAX DIGITAL MONITOR (DDM), der von der FOM Hochschule und der Universität Duisburg-Essen in Kooperation mit der QCI Corporation erstellt wird, untersucht auch in seiner vierten Ausgabe die Geschäftsberichte der DAX40-Unternehmen in Deutschland und analysiert dabei die berichteten Maßnahmen zur „Digitalisierung“, den Umfang und die Einheitlichkeit der Berichterstattung zur „Digitalisierung“ sowie die Verankerung eines Digital Leadership mit den zugehörigen Digitalkompetenzen auf der Top-Führungsebene. In der aktuellen Ausgabe sticht dabei ein Punkt bei den Ergebnissen besonders heraus: Die zum Teil sehr hohe Zunahme an digitaler Kompetenz bei den handelnden Akteuren in Vorstand und insbesondere Aufsichtsrat.
Vorstand: Digitalkompetenz als Anhängsel
83 % (Vorjahr: 72 %) der DAX40-Unternehmen haben die Verankerung der Digitalisierungsverantwortung und -kompetenz auf Vorstandsebene institutionalisiert (feste Zuordnung des Themenfeldes Digitalisierung zu einem Vorstandsmitglied). Das ist eine Steigerung von +11 % für ein Digital Leadership, wenn meist auch nur in einer Doppelfunktion (z.B. dem CEO oder CTO zugeordnet). Es ist zudem erkennbar, dass die Verantwortung für die Digitalisierung oft in einem sog. Group Committee gebündelt werden und in einer Art Stabsfunktion der Vorstandebene „nur“ zugeordnet wird. Das ist genau in den Fällen zu beobachten, wo kein eigenständiger Digitalchef oder ein Digitalchef in Doppelrolle auf Vorstandsebene erkennbar ist.
Ein eigenständiger Digitalchef konnte nur bei drei DAX40-Unternehmen auf der Vorstandsebene identifiziert werden (E.ON, Infineon und Heidelberg Materials). Die Digitalverantwortung als sog. Chief Digital Officer (CDO) wird in dieser Form sogar einzig nur von Heidelberg Materials berichtet.
Aufsichtsrat: Digitalkompetenz als Digital Washing
Bei 83 % (Vorjahr: 80 %) der DAX40-Unternehmen konnte die Digitalisierungsverantwortung und -kompetenz im Aufsichtsrat für die Arbeitgeberseite festgestellt werden. Während das im Rahmen einer normalen Entwicklung noch möglich erscheint, sieht man auf der Arbeitsnehmerseite jedoch einen enormen Zuwachs. Hier stieg die Digitalisierungsverantwortung und -kompetenz im Aufsichtsrat auf 65 % (Vorjahr: nur 8 %). Dies ist mehr als ca. das 7-fache des Vorjahreswertes. Das macht den Betrachter stutzig und tatsächlich ist Vorsicht geboten! Denn der wesentliche Treiber für diesen Zuwachs könnte die Empfehlung des Corporate Governance Kodex sein, bei dem sich Aufsichtsratsmitglieder in einer Selbstbewertung bestimmte Kompetenzfelder zuordnen können.
Dieser Empfehlung folgenden, sind wahrscheinlich seit dem letzten Jahr, immer mehr Unternehmen darauf aufmerksam geworden, dass die Digitalkompetenz in der zugehörigen Skill-Matrix gerade auf der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat fehlt. Das übliche Vorgehen für die Befüllung dieser Skill-Matrix ist die Selbsteinschätzung der Aufsichtsratsmitglieder. Es fehlt aber derzeit an objektiven sowie vergleichbaren Messkriterien für die Digitalkompetenz und somit bleiben die Angaben zunächst nebulös und müssten in jedem einzelnen Fall überprüft werden. Die aktuelle Vorgehensweise öffnet aber natürlich Tür und Tor für ein sog. Digital Washing, bei dem die eigenen Kompetenzen einen „digitalen Anstrich“ bekommen. Ob diese Selbsteinschätzung wirklich objektiv messbaren Kriterien entsprechen und wie die im Falle der Digitalisierung überhaupt aussehen könnten, bleibt zunächst offen.
Der DAX DIGITAL MONITOR prüfte vor diesem Hintergrund entsprechend auch die zugehörigen Lebensläufe der Aufsichtsratsmitglieder und stellt fest, dass in den überwiegenden Fällen die Digitalkompetenz nicht einwandfrei nachvollzogen werden konnte, was ein aktuelles Digital Washing in den Geschäftsberichten der DAX40-Unternehmen zu diesem Thema zumindest einmal vermuten lässt. Ausnahmen bestätigen auch hier aber natürlich die Regel.
Anreizsystem: Digitalkompetenz als Vergütungskomponente
Eine bessere Vorgehensweise wäre es vor diesem Hintergrund, wenn eine Digitalkompetenz mit konkreten Ergebnissen gemessen und vergütet werden würde. Bei 63 % (Vorjahr: 55 %) konnte diese explizite Verankerung der Digitalisierung als Vergütungskomponente zumindest auf Vorstandsebene bei den DAX40-Unternehmen festgestellt werden. Das entspricht einer Steigerung um + 8 % zum Vorjahr und zeigt über den Zeitverlauf der DDM-Studien 2020-2023 eine konstant ansteigende Entwicklung auf. Diese Entwicklung ist erfreulich, denn Anstrengungen für die Digitalisierung müssen zu einem festen Bestandteil der persönlichen Anreizsysteme bei den beteiligten Führungskräften und Mitarbeitern werden. Das funktioniert aber nur, wenn dies im relevanten Umfang erfolgt und nicht nur einen homöopathischen Anteil an der Gesamtvergütung hat. Für den Aufsichtsrat gibt es einen solchen Hebel noch nicht, da hier keine Leistungskomponenten vergütet werden. Hier muss der Corporate Gover-nance Kodex nachgebessert werden, um von einer Selbsteinschätzung zu einem Katalog mit Vorgaben für die Digitalkompetenz zu kommen.
Link zur Studie: www.dax-digital-monitor.de
Die Autoren:
Über Dirk Stein
Prof. Dr. Dirk Stein ist Professor an der FOM Hochschule und forscht am Institute for Strategic Finance zu den Themengebieten Digitale Transformation und Digital Entrepreneurship.