Vorsicht ist die Mutter der digitalen Porzellankiste
Mit Porzellan geht man bekanntlich vorsichtig um. Man will es nicht zerschlagen – erst recht nicht, wenn es geliebt und wertvoll ist. Umso erstaunlicher, wie viel digitales Porzellan in diesen Zeiten zerschlagen wird. Ich spreche nicht von der Digitalisierung Ihres Unternehmens oder von der allgemeinen digitalen Transformation, die für jede Firma überlebenswichtig geworden ist. Ich spreche vom Einsatz digitaler Medien. Denn hier liegt mehr im Argen, als uns recht sein darf.
Der Mediaetat macht – je nach Branche – den Großteil der Marketing-Investitionen aus. Im B2B-Marketing sind es Hundertausende zuvor schwer verdienter Euro, im B2C-Marketing bisweilen Abermillionen, die für die Kommunikation mit den Zielgruppen jedes Jahr von jedem Unternehmen in die Hand genommen werden. Nach der jüngsten Erhebung des ZAW fließen davon inzwischen fast die Hälfte, 11 von 25 Milliarden Euro in digitale Werbung: in Search, Display und Video.
Dabei stehen die Werbebudgets unter gehörigem Druck. Jedes zweite Unternehmen rechnet mittel- bis langfristig mit abnehmenden Etats, so das Ergebnis einer Befragung der Organisation Werbungtreibende im Markenverband. Grund genug also, die Effizienz und Wirksamkeit der investierten Werbegelder im Auge zu behalten, bestenfalls alles daran zu setzen, die Wirkung der eingesetzten Gelder zu steigern.
Das machen einem die digitalen Medien leider besonders schwer. Verschiedene Experimente großer Werbungtreibender wie Unilever, Procter & Gamble, Ebay oder Uber, die ihre Spendings in digitalen Medien kürzten oder gar einfroren, zeigten keinerlei Auswirkungen auf Marketing-relevante Key Performance Indicators wie Search-Anfragen, Website-Traffic oder Umsatz.
Der Einsatz von Ad Blockern macht auf den digitalen Kanälen bis zu 40 Prozent der Nutzer – oftmals die geschäftlich attraktiveren, gebildeten und einkommensstarken unter ihnen – unerreichbar. Reichweite, einer der erwiesenermaßen wichtigsten Faktoren für den Erfolg einer Kampagne, ist ein entscheidendes Kriterium, bei dem digitale Medien kaum punkten können.
Forscher beschäftigen sich derzeit mit einem Phänomen, wonach personalisiertes 1-to-1-Online-Targeting offenbar dazu tendiert, Menschen zu erreichen, die ohnehin gekauft hätten. Targeting wäre somit weniger geeignet, neue Kunden zu gewinnen.
Die programmatische Auslieferung digitaler Werbung, die bereits zwei Drittel der Display-Investitionen von hierzulande 4,5 Milliarden Euro ausmacht, steht in der Kritik. Der weltweit anerkannte Ad Fraud-Forscher Dr. Augustine Fou, der die Auslieferungsqualität von Online-Kampagnen prüft, kommt in seinen Berechnungen zum Schluss, dass in den USA zwei Drittel aller Online-Anzeigen an Bots ausgeliefert werden. Dass also zwei Drittel des Mediavolumens zwar an die Werbekunden dokumentiert und abgerechnet werden, die Anzeigen aber nicht von menschlichen Zielgruppen gesehen werden konnten.
Nach Schätzungen von Jupiter Research ist jeder vierte Euro, der weltweit in Onlinewerbung fließt, von solch systematischem Ad Fraud betroffen. Wie arg es um Online-Betrug in Deutschland steht, kann niemand sagen. Das alleine ist ein Armutszeugnis. Doch schon erheben sich erste Stimmen von Experten, die annehmen, dass auch hier von jedem Online-Euro deutlich mehr als nur ein Viertel in die Hände von professionellen Betrügern fließt.
Es kommt noch schlimmer. Seitdem Onlinewerbung automatisiert wurde, wählen Agenturen nicht geprüfte Werbeträger aus, sondern liefern die Werbemittel an Hunderttausende Websites aus, die niemand mehr unter Kontrolle hat. So gelangt die Werbung von 600 namhaften deutschen Unternehmen auf Hate und Fake News-Websites wie Breitbart und EpochTimes – dokumentiert von der Kampagne #StopFundingHateNow.
Ganz schön fragil, diese digitale Medienwelt. Wenn Sie jetzt die Lust an digitaler Werbung verloren haben sollten, war das keineswegs meine Absicht. Die Digitalisierung der Medien und ihre Ergänzung um Instrumente wie Search und Social Media hat eine Welt aufgetan, von der Marketing immer träumte.
Die ernstzunehmende Kritik an Einsatz und Wirkung der digitalen Medien sollte uns jedoch wachrütteln. Nicht alles in der digitalen Welt ist Gold, was glänzt. Zuvor galt das für die klassische Medienwelt ebenso. Marketingverantwortliche sollten nicht alles ungeprüft übernehmen, wozu der Trend zu „digital first“ sie vermeintlich zwingt.
Wir müssen von den digitalen Medien, Plattformen und Protagonisten deutlich mehr Transparenz fordern. Wir müssen – statt blind in die digitale Welt zu stolpern – Vorsicht walten lassen, in Frage stellen und auf den Prüfstand stellen. Nur so wird es uns gelingen, weniger Porzellan zu zerschlagen – und die Kostbarkeiten der klassischen Medien zu erhalten, auf die wir uns jederzeit verlassen können.