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New Work, Old Tricks

Digitale Transformation im Jahre 2021 aus Perspektive der Digital Business Leadership.
Tim Neugebauer | 02.03.2021
New Work, Old Tricks © freepik / panya8510
 

Das Beratungsgeschäft ist ein interessantes Pflaster. Im Kern ist die Idee einfach: selbst erarbeitetes Wissen und echte Erfahrung entgeltlich teilen, damit Dritte schneller und direkter zum Ziel kommen. Doch der Glaube an diese reinste Form des Consultings ist natürlich naiv, besonders wenn es um ein aktuelles Hype-Thema wie die Digitalisierung geht. Eine Flut von Literatur hat den Buchmarkt überschwemmt. Triviale Geschichtenerzählungen, Selbsterfahrungsberichte, bunte How-To-Handbücher und quellenbasierte Fachliteratur, wie unser Buch “Digital Business Leadership” (2016). Unzählige Beratungsangebote versuchen diesen Wissen im persönlichen 1:1 zu vermitteln. Große Beratungshäuser, unabhängige “boutique consulting firms” aber auch viele Digitalagenturen, alle wollen teilhaben am großen Strategiespiel des 21. Jahrhunderts a.k.a. Digitaler Wandel.

Nun wird 2020 Corona-bedingt sicher nicht in die Rekordbücher der Beratungsbranche eingehen. Zumindest nicht im positiven Sinne. Ein schwieriges Jahr, in dem viele Berater, Trainer und Coaches “auf der Bank” saßen, gefolgt von einem unsicheren Jahr 2021. Im Krisenmodus halten die wichtigen Player in Wirtschaft und Gesellschaft ihre Budgettöpfe beisammen, investieren selektiv oder kämpfen im Extremfall ganz simpel ums Überleben. Flexibilität und Anpassungsbereitschaft ist gefragt. Nicht nur in Industrie und Wirtschaft, sondern auch dort, wo es als Gedankenkonstrukt geprägt und propagiert sowie für ordentliche Tagessätze verkauft wurde.

Die Herausforderungen in Sachen Digitalisierung bleiben indes erheblich, auch 30 Jahre nachdem Tim Berners-Lee das WorldWideWeb-Projekt veröffentlichte. Aktuelle Diskussionen um New Work, Home Office und Digitalunterricht zeigen, dass die Fähigkeiten digitaler Technologien noch immer einen erheblichen Vorsprung gegenüber der Entscheidungsgeschwindigkeit in vielen Institutionen aufweisen. Für Organisationen, die auch im Digitalzeitalter erfolgreich und führend in ihrem Feld sein wollen, gilt daher nach wie vor: Digital Business Leadership benötigt mutige Unternehmensführung, eine Re-Fokussierung auf Kunden- und Nutzerbedürfnisse sowie erhebliche Weiterentwicklung von Vision, Geschäftsmodell, Organisation und IT.

Die gute Nachricht: die benötigten Werkzeuge, Vorgehensmodelle und Fallstudien erfolgreicher Transformation sind mittlerweile breitflächig vorhanden. Unzählige Artikel und Whitepaper sind dazu geschrieben, Fachkonferenzen ausgerichtet. Oder anders gesagt: was sich als persönliche Überzeugung durch eine Dauerbespielung der deutschen Management-Eliten auf Konferenzen und Fachforen sowie im Kreise intimer Inhouse-Workshops in den letzten Jahren nun (endlich!) in den Köpfen festgesetzt hat, ist nun (endlich!) auch strategisch fixiert. Daraus folgend sind Geschäftsmodelle zu überdenken, neue Produkte und Dienste zu entwickeln. Arbeit will neu organisiert werden. Der strategisch akzeptierte Fakt der digital-induzierten Veränderungsnotwendigkeit muss nun - wohl oder übel - in die operative Realität überführt werden. Das hat viel mit organisationalem Wandel zu tun, aber auch mit einer zentralen Grunderkenntnis, die es zu verinnerlichen gilt:

“Jedes Unternehmen wird sich – in unterschiedlichem Ausmaß – zum Software-Unternehmen entwickeln müssen. Wichtig ist dabei, dass auch die Rahmenbedingungen in Deutschland in einer Richtung entwickelt werden, die die Entwicklung einer Digital Business Leadership von Unternehmen nachhaltig unterstützt.” - (Digital Business Leadership, S. 40)

So simpel und einleuchtend wie diese Schlussfolgerung klingen mag, so schwierig und konfliktbehaftet ist deren Realisierung in der Praxis. Gesamtgesellschaftlich hinkt Deutschland in Sachen Breitbandausbau und Netzverfügbarkeit anderen Staaten hinterher. Noch immer, auch wenn die Initiativen rund um 5G und ein Corona-bedingt forcierter Netzausbau zumindest für die nächsten Jahre hoffen lässt. Nach aktuellen Berechnungen des Bitkom fehlen in Deutschland zudem ca. 125.000 Stellen in der IT. Nicht ohne Grund geben nahezu alle digital aktiven Unternehmen den akuten Fachkräftemangel als größtes Wachstums- und Transformations-Hemmnis an. In den letzten Jahren hat es dabei zugegebenermaßen Detailverbesserungen gegeben. Allein der große Wurf, die großflächig angelegte Veränderungs- und Transformationsbewegung, fehlt in Deutschland. Vielmehr: Veränderung mit angezogener Handbremse. Die wesentlichen Grundannahmen sollen bitte nicht zu sehr hinterfragt und erst Recht etablierte Strukturen nicht einer Gefahr durch Wandel ausgesetzt werden. So erscheint der Grundtenor vieler Diskussionen. Evolution  statt Revolution. Eine denkbar zeitraubende Art der Erneuerung, die sich als Leitgedanke folgerichtig auch in der Politik spiegelt. Und hier kommen wir an den Kern der aktuellen Problemlage der digitalen Transformation: Deutschland besitzt ein Umsetzungsproblem, sowohl in Sachen Geschwindigkeit, aber auch in Hinblick auf Reichweite und Konsequenz der Bemühungen. Im Kontext des Jahres 2016 liest sich das wie folgt:

Zusätzlich gehört vor allem auch ein innovationsfreudigeres unternehmerisches Handeln zu den unverzichtbaren Triebkräften einer digital führenden Organisation. Denn eine überzeugende digitale Vision, ausgereifte digitale Strategien und wertschöpfende Geschäftsmodell-Initiativen sind lediglich die unverzichtbaren Ausgangspunkte zum Aufbau einer Digital Business Leadership. Sie können aber nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie in konkrete Handlungen überführbar sind, intern gut koordiniert werden und im Unternehmen langfristig eine tiefe Verankerung erfahren.” - (Digital Business Leadership, S. 91)

Beispiele dieser notwendigerweise groß angelegten Transformationsprogramme gibt es. Einige Aspekte des Weges der Axel Springer SE zu einem Digital Leader haben wir in unserem Buch schon 2016 beschrieben. Die Otto Group ist ein gut dokumentiertes Beispiel, noch dazu auch im Kontext agiler und selbstorganisierter Arbeitswelten. Die ING-DiBa als agil arbeitender Vorreiter im Digital Banking sollte nicht vergessen werden. Viele Digital-Startup leben vor, was gedanklich fixiert aber in den verkrusteten Strukturen und Handlungswelten einiger Institutionen partout nicht anzukommen scheint.

Doch wieso bleiben in der Breite der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft Digitalisierungsprogramme bei Lippenbekenntnissen und Strategiepapieren hängen? Die Erfahrung zeigt: spätestens nach dem ersten “Digital High” in Folge eines energiegeladenen Workshops entsteht das, was man mit den “Mühen der Ebene” klassifizieren könnte. Auf einmal geht es nämlich ans Eingemachte. Bestehende und meist noch erfolgreiche Geschäftsmodelle gilt es zunächst einmal zu verstehen, hinsichtlich ihrer Werthaltigkeit zu hinterfragen und schließlich auf mehreren Ebenen (Stichwort: 3-Horizonte-Modell) in die Zukunft zu denken. Dies ist intellektuell anstrengend und kostet wertvolle Zeit, die im Tagesgeschäft leider für viele Beteiligte allzu oft besser angelegt erscheint. Zudem müssen weitere Entscheidungsebenen eingebunden, folgend hitzige Diskussionen über das Geht/Geht-Nicht geführt und schließlich etablierte Grundannahmen der Organisation überdacht werden. Spätestens hier kommt es zu politischen Auseinandersetzungen um Macht und Einfluß. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die erfolgversprechende digitale Zukunft der Organisation, sondern das Absichern individueller Errungenschaften. Verhindern, verzögern, verändern - die drei “Vs” des Innovationsmanagements kommen in allen Spielarten zum Einsatz. Mal offener, mal im verdecktem Kleid des Mitwirkens.

Organisation behelfen sich nun in der Regel mit zweierlei Lösungsstrategien, um den strategisch forcierten Wille auch in die Umsetzung zu bekommen. In der gängigen Lesart des “Digital Transformation Playbook” benennen sie digital-verantwortliche Personen, Leiter Digitalisierung, Chief Digital Officer, usw. denen alles Weitere anvertraut wird. Diese Positionen werden im positiven Fall mit weitreichenden Kompetenzen und zumindest nicht selten auch mit erheblichen Budget ausgestattet. Allein die faktische Durchsetzungskraft bleibt oftmals den individuellen Charakteren der beteiligten Individuen und dem ständig sichtbaren “Top-Management-Support” überlassen. Der Digitalisierungserfolg wird abhängig von der Durchsetzungs- und Überzeugungskraft der beteiligten Führungskräfte. Sind diese Veränderungskräfte nicht stark genug ausgeprägt, meist deshalb, weil das operative Tagesgeschäft einfach noch viel zu lukrativ erscheint, besteht die Gefahr, das Organisationen auf Grund der Triebkräfte und Machtstrukturen in der Organisation im Status Quo verharren. Die digitale Transformation wird entweder offiziell oder zumindest indirekt ad acta gelegt. Im besten Fall kommen alle weitreichenden Transformationsbemühungen erst nach Installation einiger Tools zur Verbesserung der Teamzusammenarbeit, einer Optimierung der firmeninternen Prozesse und einem gut gemeinten Website-Relaunch zum Erliegen.

Viel zu selten finden Unternehmen hingegen, meist ausgehend von merklichen externen Angriffen auf die bestehenden Strukturen, Mittel und Wege herkömmliche Machtgefüge zu überwinden und in eine Phase primär agiler und selbstorganisierender Arbeit überzugehen. Nach anfänglicher Skepsis entsteht im Idealfall eine geteilte Überzeugung, gefolgt von ersten positiven Entwicklungen aufgrund mutiger Experimente. Die Digitalisierung wird folglich als Chance begriffen, neue Motivation geschaffen und ungekannte Energien freigesetzt. Aus einem kurzfristigen angelegten Wandlungsprozess zum Thema Digitalisierung entsteht eine flexible und lernfähige Organisation, die ständigen Wandel akzeptiert und dafür Mittel und Wege des Umgangs findet. Oder mit Worten der Digital Business Leadership:

“Ständiger Wandel ist ein zentraler Rahmenfaktor, und Innovationen zur Anpassung an neue Umfeldbedingungen sind keine zeitlich begrenzte Aktivität mehr, sondern müssen kontinuierlich erfolgen. Vor diesem Hintergrund stellt die Unternehmenskultur den Fixpunkt und Anker des Agierens der gesamten Organisation dar.” - (Digital Business Leadership, S. 115)

Apropos Unternehmenskultur und Menschenbild. Die Selbsterfahrung der Corona-bedingten und nun temporär nahezu verpflichtend geregelten Arbeit im Home Office sind aus Sicht der Organisation ein perfekter Test. Wer im Jahr 2021 noch immer der Meinung ist, dass verteiltes Arbeiten aufgrund der subjektiv wahrgenommenen Effizienz- und Kontrollverluste per se nicht möglich oder - wenn überhaupt - dann maximal zähneknirschend hinzunehmen ist, dem ist leider in Sachen Digital Business Leadership nicht mehr zu helfen. Nicht nur haben sich Anspruchs- und Wertekategorien bei den dringend benötigten Fachkräften gewandelt, auch generell bleibt eine solche Führungskultur mit einem fragwürdigen Menschenbild verbunden. Anders und im Sinne Douglas McGregors “X-Y-Theorie” gesagt:

“Digital führende Unternehmen, die primär den Grundsätzen der Theorie Y und nicht der Theorie X folgend agieren, setzen grundsätzlich voraus, dass Menschen eine starke intrinsische Motivation besitzen und wertvolle Beiträge zur Erreichung der (richtigen) digitalen Vision leisten möchten. Eigenverantwortung, Sinnhaftigkeit und Selbstbestimmtheit sind die Kriterien, an denen es sich auszurichten gilt.” - (Digital Business Leadership, S. 115)

Es ist diese Ebene, welche nach den Erfahrungen der letzten Jahre am häufigsten Probleme bereitet und nicht selten die gut gemeinten Digitalisierungsprogramme im Keim ersticken lässt. Organisationen die digital erfolgreich sein wollen, müssen zwingend mit einem positiven Menschenbild agieren, sich von Command-and-Control verabschieden und endlich denjenigen Vertrauen schenken, die nah am Problem sind. Schließlich beginnt und endet die Reise der digitalen Transformation an den eigenen Organisationsstrukturen. Ob mit oder ohne externe Beratung.