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Müssen Internetportale jetzt proaktiv Beiträge löschen?

Timo Schutt | 18.06.2015
Am 16.06.2015 ging ein Urteil durch die Presse: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass ein Internet-Nachrichtenportal aus Estland beleidigende Kommentare zu einem ihrer Artikel auch ohne ausdrückliche Aufforderung des Verletzen hätte entfernen müssen und dem Verletzten auch noch Schadensersatz zahlen muss. Ein Aufruhr in den einschlägigen Medien war die Folge.

Müssen jetzt alle Internetportale proaktiv nach rechtswidrigen Postings, Kommentaren, Inhalten suchen und diese auch ohne ausdrückliche Aufforderung löschen?

Nein, so ist das Urteil nicht zu verstehen. Folgendes ist dabei zu berücksichtigen:

• Zunächst ist das Urteil nicht für deutsche Gerichte bindend. Sie können also grundsätzlich auch anders entscheiden.
• Dann geht es beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in erster Linie um die Frage von Grundrechtsverletzungen. Hier war zu klären, ob die vorangegangene Entscheidung des estnischen Gerichts die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit in Bezug auf den Betreiber des Internetportals verletzt, was verneint wurde. Beklagter war also der Staat Estland. Geklagt hatte der Betreiber des Nachrichtenportals, die Firma Delfi AS. Der mit der Verurteilung verbundene Eingriff in die Meinungsfreiheit war nach Ansicht des EGMR im Ergebnis verhältnismäßig.
• Das Gericht hat dementsprechend „nur“ festgestellt, dass Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich berechtigt sind, die Betreiber von Webseiten zum Entfernen von offenkundig rechtswidrigen Kommentaren zu verpflichten. Deutschland sieht eine solche Verpflichtung erst nach Erlangung positiver Kenntnis von der Rechtsverletzung vor, was üblicherweise durch einen ausdrücklichen Hinweis des Betroffenen erfolgt.
• Außerdem hat der EGMR nachdrücklich zum Ausdruck gebracht, dass es bei der Entscheidung eine wichtige Rolle gespielt hat, dass
o es sich um eines der größten estnischen Nachrichtenportale handelt,
o die fraglichen Kommentare offenkundig massive Hetze und direkte Drohungen gegen Leib und Leben einer bestimmten Person enthielten.
• „In diesem Fall“, so die Straßburger Richter, kann ausnahmsweise der Betreiber eines solchen Portals verpflichtet werden, die offenkundigen Drohungen auch ohne vorherigen Hinwies von Betroffenen zu entfernen.
• Schließlich, so stellt das Gericht weiter fest, hatte der Betreiber die technischen Möglichkeiten gehabt, die Kommentare zu kontrollieren. Es gab sowohl ein automatisches Löschsystem, um vulgäre Begriffe herauszufiltern, als auch ein Warnsystem, mit dessen Hilfe andere Nutzer den Betreiber über beleidigende Postings informieren konnten.
• Das Gericht verlangt nicht, dass Webportale künftig alle Beiträge der Nutzer von vornherein filtern oder aktiv nach Rechtsverletzungen suchen müssen. Das Urteil gelte nicht für andere Diskussionsforen oder Online-Netzwerke stellen die Richter ausdrücklich fest.

(EGMR, Aktenzeichen 64569/09)

Also viel Wind um nichts? Nun, natürlich muss es ernst genommen werden, dass in solchen Einzelfällen auch ohne ausdrücklichen Hinweis Beiträge gelöscht werden müssen. Betreibern von Webportalen sollten und können aber in der Regel davon ausgehen, dass sie von dem Urteil nicht betroffen sind. Natürlich wäre es dennoch ratsam durch Wortfilter, die einschlägige Beleidigungen und Begriffe erkennen und entsprechende Kommentare gar nicht erst freischalten, den Anforderungen Rechnung zu tragen und ggf. Hinweissysteme für alle Nutzer zu verwenden, so dass die Community in der Lage ist den Betreiber schnell und einfach auf hetzerische und strafrechtlich relevante Aussagen hinzuweisen. Mehr dürfte im Rahmen der Zumutbarkeit aber nicht angezeigt sein.

Timo Schutt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für IT-Recht