Frühe Industrialisierung verringerte Wirtschaftskraft langfristig
Die Regionen in der nördlichen Landeshälfte mit ehemals hoher Wirtschaftskraft, hohen Löhnen und traditionellen Industrien haben eine starke Deindustrialisierung durchgemacht und sind im regionalen Ranking des Bruttoinlandsprodukts massiv zurückgefallen. Beispiele hierfür sind das Ruhrgebiet, aber auch Bremen und andere Küstenregionen. Viele süddeutsche Regionen hingegen, insbesondere in Bayern, haben den Aufstieg von einer rückständigen, landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft zu neuen, innovativen Industriezentren geschafft. Eine aktuelle Studie des ZEW Mannheim gemeinsam mit der Universität Bayreuth führt diesen Umschwung auf regionale Unterschiede in der Frühindustrialisierung im 19. Jahrhundert zurück. Diese Unterschiede erklären beinahe die Hälfte des derzeitigen Nord-Süd-Gefälles beim Pro-Kopf-Einkommen deutscher Regionen.
Dass manche Regionen bereits Ende des 19. Jahrhundert sehr industriell geprägt waren, beeinflusst die westdeutsche Wirtschaftsgeografie bis heute entscheidend. Anfangs profitierten die früh industrialisierten Regionen in der nördlichen Landeshälfte. „Aber die Abhängigkeit dieser Regionen von großen, kapitalintensiven Unternehmen – oft in Schwerindustrien wie Kohle, Eisen und Stahl – war für die wirtschaftliche Entwicklung nur bis Mitte des 20. Jahrhunderts von Vorteil“, sagt Paul Berbée", Studienautor und Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich „Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen“. Ab den 1950er Jahren stellten sich genau diese Regionen aber als weniger anpassungsfähig heraus als solche im stärker diversifizierten Süden. Seitdem wirkt sich frühe Industrialisierung nachteilig aus. Eine Arbeitsmarktregion, die im Jahr 1882 eine um 10 Prozentpunkte höheren Industriebeschäftigung aufweist, steht noch 1957 im Einkommensranking von 163 Regionen um 27 Plätze besser da als eine ansonsten vergleichbare Region. Im Jahr 2019 hat sich der Vorteil in einen Nachteil gewandelt: Die Region steht nun 24 Plätze schlechter da. Das führte dazu, dass insbesondere in der nördlichen Landeshälfte Deutschlands viele Regionen, die 1926 noch relativ wohlhabend waren, 2019 zu den vergleichsweise ärmeren zählen. Während der 1960er und 1970er konnten viele relativ rückständige Regionen in Westdeutschland wirtschaftlich aufholen, sodass die regionale Ungleichheit stark zurückging. Seit etwa 1980 nehmen die regionalen Gegensätze jedoch wieder deutlich zu. „Unsere Ergebnisse deuten insbesondere darauf hin, dass es sich langfristig negativ auswirken kann, wenn sich Regionen zu stark von einzelnen Sektoren abhängig machen“, sagt Berbée.
Die Wissenschaftler teilen für ihre Analyse das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland ohne das Saarland in 163 regionale Arbeitsmärkte auf. Analysiert wurde die Einkommensentwicklung in den Jahren 1926 bis 2019. Dazu werteten die Forscher Daten der Umsatzsteuerstatistik und der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder aus. Die Studie misst den Grad der Frühindustrialisierung anhand von regional tiefgegliederten Daten aus der Berufszählung von 1882.