Erlernte Hilflosigkeit?!
Im Jahr 1967 sperrte der Psychologe Martin Seligman gesunde Hunde in einen Käfig und setzte diesen von Zeit zu Zeit unter Strom. Sobald ein Stromstoß kam, bellten die Hunde, knurrten, rasten durch den Käfig und versuchten, irgendwie zu fliehen oder sich zu wehren. Doch ohne Erfolg. Schließlich fügten sie sich ihrem Schicksal. Dann öffnete Seligman die Türen des Käfigs und setzte ihn anschließend erneut unter Strom. Preisfrage: Wie reagierten die Hunde? Als ich das erste Mal von dem grausamen Experiment hörte, hätte ich erwartet, dass die Vierbeiner die Chance zur Flucht ergreifen würden. Doch dafür war es zu spät! Obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, ihr Leiden zu beenden, blieben die psychologisch gebrochenen Kreaturen liegen und ließen sich weiter quälen. Martin Seligman hatte die erlernte Hilflosigkeit entdeckt.
Hilflose Mitarbeiter
Zeitsprung ins Jahr 2024: Wir leben in einer komplexen und chaotischen Welt. Organisationsentwickler und Berater beschreiben, was es braucht: mehr Selbstorganisation, Agilität und dezentrale Entscheidungen. Eine Fehlerkultur, damit Mitarbeiter bereit sind, Rückschläge sportlich zu nehmen, und ein Growth Mindset, um zu wachsen und lebenslang zu lernen! Motiviert durch die Erkenntnisse von Frederic Laloux, dynamischen Startup Pionieren und anderen New Work Vordenkern fordern Führungskräfte ihre Mitarbeiter auf: Los! Habt keine Angst! Nutzt eure Spielräume! Sagt, was ihr denkt! Macht einfach, ihr wisst doch am besten, was in euren Positionen das Richtige ist!
Und was passiert? Das Gleiche wie bei Seligmans Hunden: nichts! Natürlich nicht überall und immer. Aber je größer die Organisation und je länger die Mitarbeiter dabei sind, desto wahrscheinlicher bleibt alles, wie es ist. Unternehmen wundern sich, warum die „befreiten“ Mitarbeiter nichts tun und fragen sich, warum diese „nicht wollen“. Aber das Experiment von Seligman zeigt, dass die Hypothese vom „nicht wollen“ falsch ist.
Warum kündigen Mitarbeiter?
Eine McKinsey Studie aus dem Jahr 2021 zeigt, dass von über zwanzig Kündigungsgründen die beiden wichtigsten mangelnde Wertschätzung durch die Organisation und mangelnde Wertschätzung durch die Führungskraft sind. Tragisch: Die Unternehmen unterschätzten diese beiden Einflüsse total. Sie verorteten sie erst auf den Plätzen 11 und 18!
Wege aus der erlernten Hilflosigkeit
Glücklicherweise überließ Martin Seligman seine Hunde nicht einfach sich selbst, sondern fand Wege, um sie aus der erlernten Hilflosigkeit herauszuführen. Kleine bewältigbare Schritte, bei denen die Hunde wieder eigene Erfolgserlebnisse erleben konnten und der Kontakt zu anderen Hunden, von denen sie am Modell lernen konnten, halfen, die alte Lebensfreude zurückzugewinnen. Im Rahmen seiner weiteren Arbeit wurde Seligman zu einem der Mitbegründer der positiven Psychologie, die Menschen noch heute hilft, zu wachsen, sich zu entwickeln und ihr Potenzial zu entfalten. Werfen wir einen Blick darauf, was im Betrieb unternommen werden kann, um die Mitarbeiter aus der erlernten Hilflosigkeit zurückzuholen.
1. Kontrolle, Selbstwirksamkeit, Urhebererlebnisse
Wenn wir uns vor Augen führen, dass Hilflosigkeit durch dauerhaften Kontrollverlust, Fremdsteuerung und Handlungsunfähigkeit erlernt wird, erkennen wir, dass der Effekt umgekehrt werden kann, wenn Mitarbeiter in kontrollierbaren Situationen Selbstwirksamkeit erfahren und Urhebererlebnisse realisieren können. So wie uns die Erfahrung der absoluten Hilflosigkeit passiv und apathisch werden lässt, beflügelt es uns, wenn wir eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können und erleben, wie unser Handeln zu Erfolgen führt. Werden Mitarbeiter in einem für sie kontrollierbaren Umfeld mit Aufgaben konfrontiert, an denen sie wachsen und die sie auf ihre eigene Art und Weise bewältigen können, kehrt ihre Motivation zurück und ihr Selbstvertrauen wächst.
2. Passende Herausforderungen und Sicherheit
Eine wichtige Aufgabe der Führung ist, abzuschätzen, wie hoch der Reifegrad eines Mitarbeiters ist, um dann eine zu ihm und seinem Niveau passende Aufgabe, Projekt oder Herausforderung zu finden. Die Herausforderung sollte leicht über dem Kompetenzniveau des Mitarbeiters liegen, damit dieser seine Komfortzone verlassen muss. Gleichzeitig muss er genügend Sicherheit empfinden, um offenzubleiben und das Wachsen als positive Erfahrung zu erleben. Das Sicherheitsbedürfnis lässt sich befriedigen, wenn der Mitarbeiter nicht allein vor der Herausforderung steht, sondern ihr gemeinsam mit einem Kollegen begegnet. Auch Mentoren können Sicherheit bieten und auf Wunsch Impulse und wertvolles Feedback geben, die dem Mitarbeiter helfen, den Bezugsrahmen zu erweitern und neue Wege zu gehen.
3. Loslassen und vertrauen
Ist die richtige Herausforderung gefunden, ist es an der Führung, zu vertrauen und (wichtig!) loszulassen. Wer dauernd dazwischenfunkt, kontrolliert oder Mikromanagement betreibt, begünstigt eine erneute erlernte Hilflosigkeit.
4. Sinn vermitteln
Die Top 10 der destruktiven Führungsparolen vermitteln vor allem die Botschaft, dass es bei der Arbeit nicht um Sinn geht, sondern darum, das umzusetzen, was von oben vorgegeben wird. Das Problem dabei: Der Mensch ist ein sinnsuchendes Wesen. Keine Frage wird von kleinen Kindern so gerne gestellt, wie die nach dem „Warum?“ Viele Erwachsene stellen sich diese Frage weiterhin und zwei von drei Mitarbeitern würden sogar für eine sinnvollere Tätigkeit ihre Arbeit wechseln. Eine weitere wichtige Aufgabe der Führung liegt also darin, diesen Wunsch nach Sinn zu bedienen. Über Änderungen und neue Regeln muss wie unter Erwachsenen miteinander gesprochen werden. Idealerweise werden sie gemeinsam entwickelt. Führung kann und darf sich heute nicht mehr auf Positionsautorität und Herrschaftswissen zurückziehen!
Fazit: Die Möglichkeiten, um Mitarbeiter zurückzugewinnen und aus der erlernten Hilflosigkeit herauszuführen, sind vielfältig. Wichtig ist, dass mit Fingerspitzengefühl vorgegangen wird und jeder Mitarbeiter individuell betrachtet, geführt und gefördert wird. Im Kern geht es darum, Verbundenheit zur Gruppe, Organisation, Führungskraft und Aufgabe zu schaffen und bewältigbare Wachstumsmöglichkeiten zu eröffnen. Diese sollten zu den gemeinsamen Werten, Zielen und Interessen sowie zu den individuellen Stärken des Mitarbeiters passen.