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Preisindividualisierung im Lebensmitteleinzelhandel

Starker Preiswettbewerb in Deutschland.
Annett Wolf | 31.01.2024
© Freepik
 

Der Lebensmitteleinzelhandel ist geprägt von geringen Margen, einem intensiven Wettbewerb im stationären Geschäft als auch vom zunehmenden Druck durch Online-Pure-Player. Infolgedessen gewinnt ein aktives Preismanagement zunehmend an Bedeutung. Dabei ist besonders herausfordernd, dass der Kunde aktuell sehr preissensibel reagiert, was unter anderem auf die steigende Inflation von circa zehn Prozent im Jahr 2022 zurückzuführen ist. Eine Individualisierung des zu zahlenden Preises beispielsweise in Abhängigkeit vom bisherigen Kaufverhalten kann hier dienlich sein, um die Einkaufsstätte auch weiterhin attraktiv für die Kunden zu halten. Gleichzeitig differenziert sich das Handelsunternehmen damit vom Wettbewerb. Welche Voraussetzungen und notwendigen Rahmenbedingungen im Lebensmitteleinzelhandel geschaffen werden müssen, damit eine individualisierte Preissetzung ungesetzt werden kann, soll im folgenden Beitrag dargestellt werden.

Cross-Channel Retailing im Lebensmitteleinzelhandel

Im vorliegenden Beitrag werden vornehmlich Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland betrachtet. Der deutsche Lebensmittelmarkt zeichnet sich – im Vergleich zum europäischen Ausland – durch einen starken Preiswettbewerb aus, wobei der Preis als Entgelt für ein mengen- und wertmäßig spezifiziertes Warenangebot sowie für die damit verbundenen distributiven Leistungen zu verstehen ist [1]. Die Dominanz der Preispolitik ist allerdings nicht zwangsläufig mit Preisaggressivität gleichzusetzen [2], sondern beruht unter anderem auch auf den Veränderungen im Konsumverhalten, auf technologischen Verbesserungen sowie dem Trend zum Online-Shopping [3]. Angesichts dessen verändern derzeit viele Handelsunternehmen ihr bisheriges Geschäftsmodell und entwickeln sich zu Multichannel-Anbietern [4]. Der Konsument kann so für seinen Lebensmitteleinkauf im Rahmen einer Multichannel-Strategie zwischen einem der vom Einzelhandel angebotenen Kanäle – online, offline oder mobile – wählen.

Besteht darüber hinaus die Möglichkeit, die präferierten Kanäle im Kaufvorgang je nach Bedarf frei zu kombinieren, wird von Cross- Channel Retailing gesprochen [5]. Das heißt, der Kunde kann sich im Onlineshop über Produkte und deren Preise informieren, sich die Artikel im stationären Einkaufsgeschäft ansehen und gegebenenfalls mithilfe mobiler Endgeräte in den Warenkorb legen, um den Kauf abschließend online von zu Hause zu beenden. Hierbei kommt es zu einer vollständigen Integration der einzelnen Prozesse innerhalb des Unternehmens und entlang der gesamten Wertschöpfungskette [4]. Die einzelnen Kontaktpunkte zum Unternehmen werden dabei nicht mehr als eine Form des Kanals angesehen, sondern der Kunde nimmt das Unternehmen als Marke und somit als eine Einheit war [5].

Technologische Voraussetzungen individueller Preise

Dies bedingt jedoch den Einsatz neuer Technologien, wie zum Beispiel die Einführung von RFID oder die Nutzung des Cross Device Trackings. Nur dann kann der Nutzer mit seinen digitalen Endgeräten verknüpft und die Preiskenntnis auf Handels- und Kundenseite verbessert werden [3]. Mithilfe derartiger Technologie ist es zum Beispiel möglich, genau nachzuvollziehen, auf welchen Kanälen (online, offline oder mobile) sich der Kunde über Produkte und Preise informiert respektive kauft. Dieses Wissen kann zielgerichtet im Einzelhandel genutzt werden, um die Preise beispielsweise kundenindividualisiert an den Vertriebskanal oder die Konkurrenz anzupassen und damit die Konsumentenrente abzuschöpfen [6].

Weitere technische Voraussetzungen sind auf der Ebene der sogenannten Backend-Prozesse Customer-Relationship-Management (CRM) und Enterprise Resource Planning (ERP)-Systemtechnologien sowie der Aufbau einer entsprechend funktionierenden Lieferkette und Logistik. Darüber hinaus ist der Bereich Customer Insights aufzubauen, um beispielsweise Informationen zum bisherigen Kaufverhalten des Kunden zu sammeln und für eine individualisierte Preissetzung nutzbar zu machen. Dies schließt die sogenannte Frontend-Prozesse zum Kunden ein, was die Etablierung integrierter Prozesse über alle Kanäle hinweg in Form von Branding, Sortiment und Pricing impliziert.

Preismodelle – individuell und dynamisch

Bei der Durchsicht der relevanten Literatur zum Thema Preissetzung fällt auf, dass eine an die Nachfrage angepasst Preisgestaltung sowohl individuell wie zusätzlich auch dynamisch erfolgen kann. So unterscheiden Skiera et al. [7] nach den individuellen Charakteristika des Nutzers, des Produkts und der Nutzung selbst.

Die einfachste Form der Preisindividualisierung stellt die Differenzierung der Preise entsprechendden Charakteristikades Nutzers dar. Im Schrifttum wird diese statische Preissetzung oft mit dem Begriff der zeitlichen Preisdifferenzierung gleichgesetzt [7]. Darunter wird beispielsweise die Variation des Preises in Abhängigkeit von der Tageszeit subsumiert mit dem Ziel, die unterschiedlichen Zahlungsbereitschaften der Nachfrager mit vorab festgelegten Preisen abzuschöpfen [8]. Bezüglich des Zeitpunkts der Preisgestaltung werden bei der dynamischen Preissetzung die Preise im Zeitintervall dynamisch verändert, ohne dass ein derartiges Verhalten im Vorfeld genau bekannt gegeben wird [7].

Mit Fokus auf die Preisindividualisierung und um den Besonderheiten des Einzelhandels Rechnung zu tragen, ist Dynamic Pricing nachfolgend als planvolles Vorgehen eines Anbieters zu definieren, welcher seine einseitigen Preisvorgaben zu beliebigen Zeitpunkten innerhalb des Verkaufsprozesses – dynamisch und/oder individualisiert – ändern kann, um auf veränderte nachfrage- oder konkurrenzbezogene Rahmenbedingungen mit dem Ziel der Maximierung des Gesamterlöses zu reagieren [9]. Als erfolgreiches Unternehmensbeispiel kann hier das Handelsunternehmen Edeka angeführt werden.

Als Möglichkeit zur Preisindividualisierung wird den Kunden, welche die Edeka-App auf dem Smartphone nutzen, ein individueller Preisvorteil auf ausgewählte Produkte entsprechend dem bisherigen Kaufverhalten gewährt. Zudem können die Kunden bei der Nutzung des von Edeka im stationären Einzelhandelsgeschäft angebotenen Easy Shoppers, einem Einkaufswagen mit Self-Scanning-Funktion, ihre Einkaufsliste vorab per App erstellen, mit der Familie teilen sowie vor Ort die Historie der zuletzt gekauften Produkte einsehen. Edeka nutzt dieses Wissen, um individuelle Preisvorteile auf die präferierten Produkte mittels E-Coupons über den Easy Shopper oder die App zu vergeben [10].

Individualisierte und dynamische Preise umsetzen

Im Schrifttum werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert, wie Preise individuell und/oder dynamisch anzupassen sind [unter anderem 8, 11, 12]. In einem ersten Schritt muss sich der Lebensmitteleinzelhandel zunächst für die Umsetzung einer (1) technisch automatisierten,

(2) wettbewerbsorientierten und/oder (3) individualisierten Preis- optimierung entscheiden sowie die bereits eingangs beschriebenen technischen Voraussetzungen dafür schaffen. Einen zusammenfassenden Überblick über die Strategieoptionen einer derartigen Preissetzung liefert Abb. 1.

Der Einsatz (1) automatisierter Preissetzungstools setzt eine konsistente Erfassung, Analyse und Auswertung aller Preiseinflussfaktoren voraus, was insbesondere durch die zunehmende Digitalisierung auch im stationären Einzelhandel möglich ist. Aufbauend auf der Automatisierung der Datenanalyse- und Preisreaktionsprozesse können bei einem (2) strategischen beziehungsweise wettbewerbsorientierten Pricing auch Informationen zur Preissetzung der Konkurrenz mit einfließen, sodass hier beispielsweise das Preisimage eines Handelsunternehmens positiv beeinflusst wird [3].

Zudem ist anzumerken, dass eine automatisierte Preisoptimierung gegebenenfalls erst die Möglichkeit zur strategischen Steuerung schafft, indem durch die Analyse und Aufbereitung der vorliegenden Informationen nachhaltig Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufgedeckt werden können [13]. Ferner bietet dies auch die Chance zur (3) Individualisierung der Preise, indem zusätzlich zu den unternehmens- und wettbewerbsbezogenen Daten auch die Kundeninformationen in die dynamische Preissetzung einfließen.

Daraus resultierend ist in einem zweiten Schritt festzulegen, ob damit Einzelpreise, Preise für die Warengruppen beziehungsweise das Gesamtsortiment oder aktionsbasiert Preise optimiert werden sollen [3, 13]. Da die Verbraucher während eines Einkaufsvorgangs verschiedene Artikel aus dem Sortiment des Einzelhandels erwerben, sind auch Verbundbeziehungen für die Preisentscheidungen von zentraler Bedeutung. So ist beispielsweise der Preis eines Artikels umso niedriger anzusetzen, je stärker dieser Artikel den Absatz von anderen Produkten fördert [3].

 

- Abb. 1: Strategische Möglichkeiten und Formen einer dynamischen Preissetzung -

 

Eine automatisierte Einzelpreisoptimierung bietet sich für Basis- und Abschöpfartikel an, die nicht im Preisfokus der Verbraucher stehen und damit eine geringe Preiselastizität aufweisen [15]. In diesem Kontext können höhere Preise angesetzt werden, um die Zahlungsbereitschaft der Kunden gewinnbringend auszunutzen und damit einen Mehrwert zu schaffen [12]. So kann der Einzelhandel beispielsweise unter Berücksichtigung der aktuellen Wetterdaten bei schlechtem Wetter den Preis von Eis reduzieren oder bei Sonnenschein erhöhen. Bei Eckpreis- und Fokusartikeln ist hingegen eine strategische Einzelpreisoptimierung sinnvoll, da diese Produkte in der Preiswahrnehmung stark verankert sind und sich durch eine hohe Preiselastizität auszeichnen (vergleiche Abb. 1).

Ebenfalls können hier Verbundbeziehungen zu einer Neukalkulation der Einzelpreise führen. So kann der Handel beispielsweise zur Anregung eines Kaufverbundes den Preis des Urkaufs – zum Beispiel für Nudeln – reduzieren, um damit den Folgekauf – zum Beispiel für Pesto oder Tomatensauce – auszulösen [16]. Ferner ist auch der gezielte Verzicht auf Preisreduktionen vorstellbar, wenn zum Beispiel durch Auswertung von Kundendaten bekannt ist, dass Artikel unabhängig vom Preis erworben werden. Zudem können Wettbewerbspreise in den regressionsanalytischen Dynamic-Pricing-Algorithmus einfließen und so durch eine softwaregestützte Optimierung der Preissetzung die Prognose des Effekts auf Umsatz oder Rohertrag verbessern [8].

Neben den produktspezifischen Elastizitäten findet im Rahmen der strategischen Preisoptimierung auf Warengruppen- oder Sortimentsebene auch die Kreuzpreiselastizität Berücksichtigung [15]. Bei einer positiven Ausprägung führt diese zu Substitutionseffekten und damit zu einem Auswahlverbund innerhalb des Sortiments [16]. Dynamic-Pricing- Systeme können dies durch die Ausgabe von Bundle-Preisen effektiv nutzen, was methodisch einer Kombination aus personalisierter Produktempfehlung und intelligenter Preisoptimierung entspricht. Derartige Aspekte finden auch beim aktionsbasierten Pricing in personalisierter Form Verwendung [8]. Das Ziel besteht darin, den Kunden mithilfe von individuellen Preisvorteilen zu belohnen und damit an das Unternehmen zu binden (vergleiche Abb. 1).

Grenzen

Auf strategischer Ebene muss der Einzelhandel vor der Umsetzung einer individualisierten und/oder dynamischen Preissetzung klären, welche Vertriebskanäle – offline, online oder mobile – aufzubauen sind und ob in den differenten Vertriebskanälen einheitliche Preise verlangt werden können oder nicht. Problematisch ist dies insbesondere in Einkaufskooperationen oder Genossenschaften, wie dies beispielsweise bei Rewe oder Edeka der Fall ist, wo ein Preisbindungsverbot berücksichtigt werden muss. Danach ist es bislang verboten, die Preise für die einzelnen Mitglieder in diesen genossenschaftlichen Strukturen überregional vorzugeben. Sollten die Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels die Einführung des Dynamic Pricing prüfen, so sind zunächst klare Strukturen und Verantwortlichkeiten zu definieren [17].

Auch sollten die Unternehmen in kleinen Etappen beginnen, Kompe- tenzen aufbauen und einen systematischen Prozess der Erfolgskontrolle und Feinsteuerung etablieren, damit eine individuelle und/oder dynamische Preisanpassung langfristig erfolgreich umgesetzt werden kann [11]. So ergeben sich mit einer derartigen Preisstrategie zwar interessante Möglichkeiten zur Ausnutzung preiselastischer Nachfragesituationen oder zur Erhöhung der Effektivität und die Effizienz im Pricing, dies geht jedoch mit einer Steigerung der Komplexität und einem erhöhten Risiko des Vertrauensverlusts bei Bekanntwerden einer derartigen Preisstrategie aufseiten der Nachfrager einher [17].

Die Herausforderung besteht nämlich darin, die Kundeninformationen zum Zweckeinerbesseren Segmentierungdes Sortimentsundstrategischen Preisbildung so auszuwerten, dass damit die Preisbereitschaften abgeschöpft werden können, ohne die Kunden zu übervorteilen [17]. So ist hervorzuheben, dass Kunden selten eine Einkaufsstätte aufgrund des Preises eines Artikels auswählen, sondern sich vielmehr von der Wahrnehmung des Preisniveaus leiten lassen.

Bei individualisierten und/ oder dynamischen Preisen sind daher nicht nur das Preisimage zu berücksichtigen, welches die käuferindividuellen Bewertungen des Preisniveaus einer Einkaufsstätte angibt [3], sondern auch die Preisfairness [18]. Empirische Forschungsergebnisse zeigen, dass Kunden einen Preisanstieg dann als unfair annehmen, wenn dieser der Gewinnwahrung und nicht dem Ausgleich höherer Kosten dient [19]. Ähnlich verhält es sich bei Preisänderungen, die in kürzeren Zeitabständen vollzogen werden [20].

Darüber hinaus wird zukünftig erfolgsentscheidend sein, Verbund- beziehungen im Sortiment über den stationären Einzelhandel hinaus auch im Onlinehandel zu erfassen und diese für die individuelle Preissetzung besser nutzbar zu machen. Darüber hinaus ergibt sich aus juristischer Perspektive ein lauterkeitsrechtliches Problem. Demnach können die Preise zwar relativ unproblematisch herabgesetzt, jedoch nicht ohne Weiteres wieder heraufgesetzt werden, zumindest nicht, wenn nicht sichergestellt werden kann, dass der Kunde den Preis, der ihm am Regal offeriert wurde, auch an der Kasse bezahlen muss. Daher ist eine automatisierte und/oder strategische Preisanpassung im stationären Einzelhandel aktuell nur während Schließzeiten beispielsweise über Nacht möglich.

Auf operativer Ebene benötigt es zudem einiger technologischer Voraussetzungen wie zum Beispiel die flächendeckende Umrüstung auf Electronic Shelf Labels in den stationären Einkaufsstätten oder die Entwicklung einer intelligenten Logik zur Verknüpfung von Wettbewerbspreisen oder Zahlungsbereitschaften der Kunden und den Warenbeständen online und offline. Derartige Aspekte sind im Lebensmitteleinzelhandel bislang nur vereinzelt zu finden.

Fazit

Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in die notwendigen Voraussetzungen und Rahmenfaktoren einer individuellen und/oder dynamischen Preissetzung. Die erfolgreiche Umsetzung dessen ist nicht zuletzt von der Fähigkeit abhängig, die neuen technologischen Möglichkeiten so zu kombinieren, dass sowohl die Verbraucher als auch die Unternehmen individuelle beziehungsweise dynamische Preise als Mehrwert betrachten. Abschließend ist festzuhalten, dass in diesem Themenfeld noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. So braucht es – in Wissenschaft und Praxis – nicht zuletzt eines besseren Verständnisses des Nachfragers und dessen Kaufverhaltens – und dies sowohl bezogen auf die Produktkategorie als auch auf den Vertriebskanal.

 

 

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Dieser Beitrag erschien im Leitfaden Personalisierung