Deutsche Wirtschaft wächst um 2,1 Prozent 2022 und 3,2 Prozent 2023
Der Krieg in der Ukraine trifft auch die deutsche Wirtschaft und erschwert die Erholung nach der Corona-Pandemie erheblich. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung reduziert deshalb die Wachstumserwartung in seiner heute vorgelegten neuen Prognose stark. Die Ökonominnen und Ökonomen arbeiten dabei mit zwei Szenarien, die sich vor allem bei den Annahmen zu Energiepreissteigerungen unterscheiden. Wegen der leichten Preisberuhigung in den vergangenen Tagen halten sie das etwas günstigere „Basisszenario“ aktuell für wahrscheinlicher als das „Risikoszenario“. Im Basisszenario rechnen die Fachleute für 2022 mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,1 Prozent. Tritt das ungünstigere Risikoszenario mit weitaus höheren Energiepreisen ein, würde die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr hingegen eine leichte Rezession erleben, das BIP könnte um 0,3 Prozent im Jahresmittel schrumpfen. In der vorigen Konjunkturprognose vom Dezember war das IMK noch von einem Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent für 2022 ausgegangen. Für 2023 hatte es bislang noch keine Vorhersage abgegeben, nun prognostizieren die Forschenden eine BIP-Zunahme von 3,2 Prozent im Basisszenario bzw. 1,4 Prozent im Risikoszenario. In erster Linie stark steigende Energiepreise, aber auch die Folgen weiterer Lieferengpässe, treiben die Inflationsrate 2022 im Basisszenario auf durchschnittlich 6,2 Prozent bzw. sogar 8,2 Prozent im Risikoszenario. 2023 soll die Teuerungsrate dann wieder deutlich zurückgehen auf 2,2 bzw. 2,4 Prozent je nach Szenario. Trotz der neuen Krise weiter relativ stabil bleibt der Arbeitsmarkt: Die Zahl der Erwerbstätigen wird laut IMK 2022 und 2023 in beiden Szenarien steigen, die Arbeitslosenquote sinkt im Basisszenario weiter spürbar, im Risikoszenario steigt sie vorübergehend an, liegt aber im Jahresschnitt 2022 leicht unter dem Niveau aus dem Pandemie-Jahr 2021 und stagniert dann.
„Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verursacht riesiges menschliches Leid, und er hat den wirtschaftlichen Erholungspfad, der noch vor kurzem absehbar war, jäh blockiert. Das betrifft viele Länder, aber Deutschland ganz besonders. Nun prägen nicht mehr die langsame, aber kontinuierliche Entspannung der coronabedingten Lieferengpässe und deutliche Zuwächse beim privaten Konsum das Konjunkturbild 2022, sondern dramatisch steigende Energiepreise, außerordentlich hohe Inflationsraten, neue Belastungen von Lieferketten und große Unsicherheit. Das bremst den privaten Konsum, den Außenhandel und die Bereitschaft von Unternehmen, zu investieren“, beschreibt Prof. Dr. Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK, die aktuellen Aussichten. „Statt eines dynamischen Aufschwungs werden wir dieses Jahr im besten Fall ein moderates Wachstum sehen.“
Begrenzung von realen Einkommensverlusten ist zentrale Stabilisierungsaufgabe
Vor diesem Hintergrund sei es eine zentrale Aufgabe, Unsicherheiten zu reduzieren, Beschäftigung und Einkommen zu stabilisieren und wo möglich zu steigern, erklärt Dullien. Neben bewährten Instrumenten wie der Kurzarbeit und den jüngst beschlossenen Entlastungen der privaten Haushalte durch Einmalzahlungen sei die für den Herbst beschlossene Erhöhung des Mindestlohns dafür hilfreich, ebenso wieder etwas kräftiger steigende Tariflöhne, mit denen das IMK in seiner Prognose ebenfalls rechnet. Flankierend sieht das IMK aber unbedingt die Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter am Zuge. „Wenn es im Zusammenspiel mehrerer Seiten gelingt, reale Einkommensverluste gerade bei Haushalten mit kleineren Einkommen zu verhindern oder zumindest stark zu begrenzen, stabilisiert das die gesamtwirtschaftliche Situation entscheidend“, sagt Dullien.
Als weiteres sinnvolles Mittel zur Ergänzung der Entlastungspläne der Ampel-Regierung favorisieren die Forschenden etwa einen teilweisen Deckel für die besonders drastisch steigenden Gaspreise, bei dem pro Haushalt ein Grundbezug von 8000 Kilowattstunden übergangsweise subventioniert würde. Die nun beschlossene vorübergehende Senkung bei den Kraftstoffsteuern halten die Forschenden im Vergleich für sozialpolitisch weniger zielgenau. Nachdem dieser Vorschlag nun politische Mehrheiten gefunden hat, empfehlen sie, im Gegenzug für die Zukunft bei Kraftstoff-Niedrigpreisen Zusatzabgaben zu erheben. Damit könnte ein Einstieg geschaffen werden, Energiepreise künftig über den Konjunkturzyklus stärker zu stabilisieren. Darüber hinaus könnten aus Sicht des IMK mehrere der jüngst von der Internationalen Energieagentur vorgeschlagenen Maßnahmen wie ein autofreier Sonntag, Tempolimits oder die verstärkte Nutzung von Homeoffice kurzfristig umgesetzt werden, um Energie und Kosten zu sparen. Zugleich sei es wichtig, zusätzliche öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Dekarbonisierung oder Bildung noch zu stärken.
Bei Energieembargo droht tiefe Rezession
Eine abrupte Unterbrechung von Energielieferungen aus Russland, sei es durch ein deutsches Embargo oder einen russischen Lieferstopp, würde hingegen in diesem Jahr eine tiefe Rezession in der Bundesrepublik verursachen. In diesem Fall würde das deutsche BIP noch einmal deutlich stärker schrumpfen als im Risikoszenario, legen ergänzende Simulationsrechnungen nahe, die das IMK mit dem international weit genutzten Konjunkturmodell NiGEM durchgeführt hat. „Mit genauen Zahlen eines Einbruchs sollte man vorsichtig sein, weil NiGEM solche Extremszenarien nur eingeschränkt verarbeiten kann. Das gilt aber für andere Modellrechnungen, die nur moderate Auswirkungen nahelegten und deren Ergebnisse zuletzt in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, noch verstärkt“, betont Dullien. „Grundsätzlich wäre ein Energieembargo natürlich eine politische Entscheidung, bei der zahlreiche Erwägungen einfließen. Wir wollen aber darauf hinweisen, dass die wirtschaftlichen und auch die sozialen Folgen mit höchster Wahrscheinlichkeit gravierend wären und die Wirtschaftspolitik bereit sein muss, entsprechend zu reagieren.“
Kerndaten der Prognose für 2022 und 2023
Wegen der „außergewöhnlich hohen Unsicherheit“, die der Ukraine-Krieg mit sich bringt, hat das IMK zwei Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen zur Entwicklung der Energiepreise sowie der unternehmerischen Risikoprämien durchgerechnet. Im Basisszenario gehen die Forschenden davon aus, dass die Öl- und die Gaspreise 2022 um 50 beziehungsweise knapp 150 Prozent über dem Niveau von 2021 liegen. Zudem haben sie die unternehmerische Risikoprämie, eine Kennziffer aus dem Controlling, um etwa Investitionsentscheidungen zu treffen, um einen Prozentpunkt erhöht. Im pessimistischeren Risikoszenario, das aus Sicht der Forschenden im Moment etwas unwahrscheinlicher ist, ist Öl im Schnitt rund 100 Prozent und Gas rund 200 Prozent teurer als im Vorjahr. Die Risikoprämie wird um zwei Prozentpunkte höher veranschlagt. Daraus ergeben sich die folgenden Ergebnisse für 2022 und 2023.
Arbeitsmarkt
Die negativen Auswirkungen des Krieges auf privaten Konsum, Investitionen und Außenhandel bremsen auch die Arbeitsmarktentwicklung. Trotzdem bleibt der Trend bei der Erwerbstätigkeit im Vergleich zum Jahr 2021 positiv. So wächst die Zahl der Erwerbstätigen 2022 im Basisszenario jahresdurchschnittlich um deutlich mehr als 400.000 Personen bzw. 1,1 Prozent, im Risikoszenario ergibt sich noch eine Zunahme um 0,4 Prozent. Für 2023 erwartet das IMK weitere Zuwächse um 1,3 bzw. 0,5 Prozent im Jahresmittel.
Bei den Arbeitslosenzahlen prognostiziert das IMK im Jahresdurchschnitt 2022 für das Basisszenario einen nach wie vor spürbaren Rückgang um rund 350.000 Personen, so dass im Jahresmittel rund 2,27 Millionen Menschen arbeitslos sein werden. Das entspricht einer Quote von 4,9 Prozent nach 5,7 Prozent 2021. Im Risikoszenario geht die Arbeitslosenzahl um knapp 180.000 auf rund 2,43 Millionen Personen zurück, die Quote liegt bei 5,3 Prozent. Für 2023 veranschlagen die Forschenden im Basisszenario rund 2,12 Millionen Arbeitslose, was einem Rückgang um rund 150.000 Personen und einer Quote von 4,6 Prozent entspricht. Im Risikoszenario rechnen sie mit einem minimalen Anstieg um knapp 30.000 Arbeitslose und einem Verharren der Quote bei 5,3 Prozent.
Weltwirtschaft und Außenhandel
Auch wichtige Handelspartner trifft die neue Krise. Die Weltwirtschaft wächst in diesem Jahr im Basisszenario um durchschnittlich 3,9 Prozent und damit schon spürbar verhaltener als noch im Dezember prognostiziert. Im Risikoszenario würde sich das globale Wachstum noch stärker verlangsamen, auf nur noch 2,6 Prozent. Für 2023 veranschlagt das IMK ein weltweites BIP-Wachstum um 3,5 Prozent im Basis- und um 2,0 Prozent im Risikoszenario.
In den USA schwächt sich das Wachstum nach dem kräftigen Anstieg 2021 im Basisszenario auf 3,2 Prozent bzw. 1,3 Prozent im Risikoszenario ab. Für 2023 rechnet das IMK dann mit 2,3 bzw. lediglich 0,5 Prozent. In China wirken sich zudem die finanziellen Turbulenzen im Bausektor und steigende Corona-Infektionszahlen bremsend aus, so dass das die Wirtschaftsleistung 2022 um 4,8 Prozent im Basis- und um 3,5 Prozent im Risikoszenario zunimmt. 2023 sieht das IMK für die Volksrepublik eine BIP-Zunahme um 4,6 bzw. 3,8 Prozent. Auch die wirtschaftliche Erholung in der EU verliert durch den Ukraine-Krieg spürbar an Dynamik: Das IMK veranschlagt hier im Basisszenario für 2022 ein Wachstum von 3,3 und im Risikoszenario von 1,7 Prozent. 2023 prognostizieren die Forschenden je nach Szenario 2,7 bzw. ebenfalls 1,7 Prozent. Kurzfristig noch schlechter sind die Aussichten für den Euroraum: Das IMK rechnet hier im Basisszenario für 2022 mit einem Wachstum von 2,6 und im Risikoszenario von lediglich 0,4 Prozent. 2023 prognostizieren die Forschenden je nach Szenario dann 2,8 bzw. 1,7 Prozent.
Die russische Wirtschaft erlebt im Basisszenario 2022 eine tiefe Rezession, das BIP sinkt um 4,9 Prozent. Im Risikoszenario fällt der BIP-Rückgang mit 4,7 Prozent etwas geringer aus, weil der Exporteur Russland von noch höheren Energiepreisen profitieren würde. Für 2023 prognostiziert das IMK im Basisszenario eine Zunahme des russischen BIP um 0,9 Prozent. Im Risikoszenario liegt das Wachstum aus den gleichen Gründen etwas höher, bei 1,3 Prozent.
Der Ukraine-Krieg hinterlässt tiefe Spuren im deutschen Außenhandel. Preisschocks, die schwächere weltwirtschaftliche Entwicklung sowie Rohstoff- und Materialengpässe belasten die deutschen Ausfuhren, trotz weiterhin voller Auftragsbücher. Im Basisszenario prognostiziert das IMK ein Exportwachstum um 4,2 Prozent im Jahresmittel 2022 und um 5,1 Prozent 2023, wobei ein statistischer Überhang aus 2021 zum relativ hohen Wert 2022 beiträgt. Deutlich negativer sieht der Trend im Risikoszenario aus: Exportrückgang um 2,2 Prozent in diesem und Stagnation im kommenden Jahr. Auch die Importentwicklung verläuft deutlich gedämpft: Im Basisszenario steigen die Einfuhren bei stark zunehmenden Preisen um 5,0 Prozent im Jahresdurchschnitt 2022 und 5,4 Prozent 2023. Auch hier weichen die Ergebnisse des Risikoszenarios sehr stark ab: Im Jahresmittel 2022 würden die Importe um 5,5 Prozent zurückgehen, 2023 noch um 0,3 Prozent sinken.
Investitionen
Auch bei den Ausrüstungsinvestitionen wirken sich Preisentwicklung, Lieferengpässe und vor allem die hohe Unsicherheit in diesem Jahr stark negativ aus. Im Basisszenario rechnen die Forschenden mit einem Rückgang um 0,7 Prozent. Im Risikoszenario ist sogar ein Absturz der Ausrüstungsinvestitionen um 15,2 Prozent im Jahresmittel 2022 absehbar. Für 2023 prognostiziert das IMK im Basisszenario ein wieder deutlich anziehendes Wachstum der Investitionen um jahresdurchschnittlich 8,1 Prozent. Im Risikoszenario ergibt sich dagegen ein weiterer Rückgang um 1,1 Prozent.
Auch die Bauinvestitionen werden durch hohe wirtschaftliche Unsicherheit und verschlechterte Finanzierungsbedingungen in diesem Jahr in Mitleidenschaft gezogen. Im Basisszenario steigen sie im Jahresmittel 2022 um lediglich 1,3 Prozent, das Risikoszenario weist sogar einen Einbruch um 7,3 Prozent aus. 2023 erholen sich die Bauinvestitionen im Basisszenario wieder, die Zunahme beträgt 4,7 Prozent. Im Risikoszenario gehen sie hingegen um weitere 0,7 Prozent zurück.
Einkommen und Konsum
Die nominalen verfügbaren Einkommen legen zwar in beiden Szenarien und sowohl 2022 als auch 2023 spürbar zu, unter anderem durch die Mindestlohnerhöhung und Steigerungen der Tariflöhne. Trotzdem können sie in diesem Jahr mit der drastisch gestiegenen Inflation nicht mithalten. Das gilt insbesondere im Risikoszenario. Das wirkt sich auf den Konsum der privaten Haushalte aus, obwohl dieser dadurch gestützt wird, dass ein Teil der zusätzlichen Corona-Ersparnisse aus den Jahren 2020 und 2021 ausgegeben wird und die Sparquote generell deutlich sinkt. Die realen privaten Konsumausgaben steigen im Basisszenario im Jahresdurchschnitt 2022 um 1,7 Prozent, im Risikoszenario gehen sie um 0,9 Prozent zurück. Für das kommende Jahr prognostiziert das IMK dann bei deutlich geringerer Teuerung und weiter, aber langsamer, sinkender Sparquote einen deutlichen Zuwachs der realen privaten Konsumausgaben um jahresdurchschnittlich 5,4 Prozent im Basisszenario und um 4,4 Prozent im Risikoszenario.
Inflation und öffentliche Finanzen
Der Ukraine-Krieg treibt die Inflation in diesem Jahr auf Höhen, wie sie zuletzt während der Ölkrise der frühen 1980er Jahre gemessen wurden. Im Basisszenario rechnet das IMK im Jahresdurchschnitt 2022 mit 6,2 Prozent Inflation, im Risikoszenario sogar mit 8,2 Prozent. 2023 geht die Teuerungsrate spürbar zurück, bleibt aber im Jahresmittel über dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank: Das IMK prognostiziert je nach Szenario 2,2 bzw. 2,4 Prozent.
Da der Staat zur Krisenbekämpfung sehr viel Geld einsetzt, unter anderem für Stützungsmaßnahmen für Bürger und Unternehmen, zur Flüchtlingsaufnahme und ab 2023 für höhere Verteidigungsausgaben, steigt der Staatskonsum spürbar. Das trägt zur Stabilisierung der Konjunktur bei, führt aber auch zu einem weiterhin erheblichen Defizit im öffentlichen Budget. Im Basisszenario ergibt sich 2022 ein Haushaltsdefizit von 2,0 Prozent des BIP, im Risikoszenario sind es 2,7 Prozent. Für 2023 prognostiziert das IMK ein Defizit von 1,6 Prozent im Basis- und 2,9 Prozent im Risikoszenario.