13 Jahre Web-Marketing - was hat sich verändert?
Dieser Fachartikel erschien im Leitfaden Online-Marketing
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13 Jahre ist das World Wide Web gerade mal alt. „Schon“, werden die einen denken, diejenigen, die von Anfang an oder doch seit den Frühzeiten dabei sind. „Erst“, werden andere meinen, die sich an eine Welt ohne das Internet in Gestalt des Web, in der es ja für eine breitere Öffentlichkeit erst sichtbar und erlebbar wurde, nicht einmal mehr erinnern können. Und doch könnte man sich bereits vortrefflich über die korrekte Zeitangabe streiten.
Bereits seit 1980 hatte sich Tim Berners-Lee mit einem „Hypertext-System“ beschäftigt, das es durch „Verlinkung“ erleichtern sollte, Dokumente und Personen in einem Netzwerk ausfindig zu machen. Aus dem Jahr 1989 stammt sein, inzwischen legendärer Vorschlag, zu einem auf diesem Konzept beruhenden „Mesh“ am europäischen (!) Forschungszentrum CERN [1]. „World Wide Web“ nannte er damals seinen schnell auf einer „Next“ Workstation zusammengehackten „Browser“, zur Darstellung der Seiten in seinem Mesh. Aber erst 1994 begründete Tim Berners-Lee das „World Wide Web Consortium“ (W3C), das seither die Entwicklung des am schnellsten gewachsenen Massenmediums in der Geschichte medialer Kommunikation beaufsichtigt.
Wer sich noch an die Anfänge des Web erinnert, an den legendären „Mosaic“-Browser, den ein junger Student namens Marc Andreessen gerade der staunenden WWW-Newsgroup vorgestellt hatte, wer auch die Diskussionen noch im Ohr hat, ob nun „Gopher“ oder das World Wide Web „the next big thing“ im Internet werden würde, wer die hitzigen Debatten in der Mailbox- und Hacker-Szene genau so verfolgt hat, wie die Podiumsdiskussionen erster „Entscheider“ in der gerade entstehenden „digitalen Wirtschaft“, ob damals noch proprietäre Onlinedienste wie CompuServe, AOL und T-Online nicht auf die IP- und Web-Technologien umstellen müssten, um zu überleben, wer mithin ein veritabler „Web-Veteran“ ist, wird nicht umhin können, die im Titel gestellte Frage kurz und bündig zu beantworten: „Alles und nichts.“
„Panta Rhei“ nannten bereits die Philosophen der „alten Griechen“ dieses merk-würdige Phänomen: „Alles fließt“. Und meinten damit: Wie ein Fluss immer derselbe bleibt, auch wenn jeder einzelne Tropfen Wasser in ihm immer wieder neu ist, so bleibt etwas immer gleich, gerade indem es sich ständig verändert. Und genau so verhält es sich auch mit dem Web. Das könnte man nun an jedem einzelnen seiner wesentlichen Entwicklungsschritte untersuchen und wohl auch belegen.
Aber hier soll es ja nicht um „eine kleine Geschichte“ des Web und des Internet in den letzten 13 Jahren gehen. Die ist an anderer Stelle bereits geschrieben und dokumentiert worden – von jenen, die sie nicht nur erlebt, sondern auch und vor allem gestaltet haben [2]. In diesem Buch geht es vielmehr um die Entwicklung des Online-Marketings. Ein durchaus lohnendes Objekt der Betrachtung, wenn man bedenkt, dass der Online-Werbemarkt, im Jahr 1994 noch nicht einmal existent, im vorigen Jahr weltweit ein Umsatzvolumen von 33 Milliarden US-Dollar generierte [3].
An dieser Stelle soll das Thema allerdings einmal nicht aus der „Sicht der Märkte“, sondern aus einem verwunderlicherweise immer noch ungewohnten Blickwinkel betrachtet werden: aus der Perspektive der Nutzer und – wenn die Marketingbemühungen denn gelingen - Kunden.
Nicht zuletzt weil dieser Nutzer im Verlauf der ebenso engagiert wie oft oberflächlich geführten Debatte um das aktuelle „Web 2.0“ endlich in den Mittelpunkt des Interesses der Anbieter gerückt ist. Dahin also, wo er hingehört und wo er, zumindest im Internet, eigentlich schon immer war.
Web 2.0 - (m)eine Definition
Schaut man sich die in den letzten Jahren immer intensiver und engagierter geführte Debatte um das „Web 2.0“, die gelegentlich fast die Züge eines Glaubenskrieges anzunehmen scheint, etwas genauer an, stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei dem debattierten Phänomen eigentlich um einen „Hype“ oder um einen veritablen, nachhaltigen Trend handelt.
Bei einem Trend handelt es sich im Allgemeinen um eine eher langfristige Entwicklung in eine bestimmte Richtung, wobei das Ziel aber noch nicht genau auszumachen ist. Er gibt also eine Richtung an, eine Tendenz, aber noch kein absehbares Ergebnis. Anders der Hype: Hier handelt es sich um eine eher kurzfristige Entwicklung, eine Welle, man könnte auch sagen, um eine „Über-Mode“. Und wie jede Mode ist der Hype gemacht, und zwar mit dem Ziel, ein Thema zu setzen beziehungsweise zu besetzen, das bewegt.
Nach dem Modell der berühmten „Hype-Kurve“ des amerikanischen Markt-forschungsinstituts Gartner wird ein (Technologie-)Hype normalerweise von einer technischen Entwicklung ausgelöst, die sehr schnell an Aufmerksamkeit gewinnt, bis sie auf einem Gipfel überzogener und nicht einlösbarer Erwartungen ankommt. Auf Grund dieser Enttäuschung nimmt die Aufmerksamkeit für den Hype genau so schnell ab, wie sie vorher zugenommen hatte. Doch unter der Oberfläche medialer Wahrnehmung begeben sich diejenigen, die sich inzwischen mit der Entwicklung und ihrem Potenzial vertraut gemacht haben, auf den „Pfad der Erleuchtung“, entdecken also neue, manchmal bahnbrechende Anwendungsmöglichkeiten, die den Hype schließlich auf ein stetig ansteigendes Niveau der Produktivität und Vermarktung führen – um so schließlich aus dem Hype einen Trend zu machen.
Das klingt nun ganz und gar vertraut und passend, man könnte geneigt sein, das Phänomen „Web 2.0“ endgültig in der „Hype-Schublade“ abzulegen - und wäre der Bedeutung des ebenso schillernden wie ungenauen Begriffs um keinen Deut näher gekommen. Weder hätte man eine Erklärung für die Emotionalität der Debatte gefunden, die die einen schäumend von den „Klowänden des Internet“ reden lässt, während andere das gleiche Web 2.0 wie einen Kindergeburtstag als „Mitmach-Web“ feiern. Noch hätte man eine schlüssige Erklärung für die geradezu unglaubliche und massenhafte Attraktivität, die das Web in seiner zweiten Inkarnation bei den Nutzern genießt: Mehr als 70 Millionen Weblogs gibt es inzwischen und tagtäglich werden mehr als 100 Millionen Videos auf YouTube aufgerufen [4].
Der „Urheber“ des Begriffs, der amerikanische Publizist und Verleger Tim O’Reilley hat versucht, sich ihm mittels einer „Meme Map“ [5] zu nähern. In deren Zentrum hat er versammelt, was das Web 2.0 wesentlich ausmacht: Das Verständnis des ganzen Webs als Plattform, auf der die Nutzer ihre eigenen Daten selbst verwalten und kontrollieren. Darüber steht, worin Web 2.0 sich heute zeigt: etwa in der Interaktion mit statt in der Herausgabe von digitalen Medien, in radikaler Dezentralisierung und radikalem Vertrauen innerhalb eines Netzwerkes. Unter all dem sieht man, was nach O’Reilley zum Erfolg des Phänomens beigetragen hat. Darunter ist ein Statement von entscheidender Bedeutung: Web 2.0 ist vor allem „eine Haltung, keine Technologie“.
Kurz zusammengefasst ist Web 2.0 also weder eine Technologie, noch gar ein Geschäftsmodell, sondern vor allem ein „Lifestyle“. Ein digitaler Lifestyle, der sich wesentlich in einer neuen Form der Nutzung digitaler Medien zeigt. Der Nutzer selbst wird dabei vom ehemals passiven Zuschauer und Medienkonsumenten zu einem neuartigen und (inter-) aktiven „(Ko-)Produzenten“ digitaler Medien.
Und damit wären wir schließlich bei (m)einer Definition des Web 2.0 angekommen: Der Begriff „Web 2.0“ bezeichnet den Austausch persönlicher, digitaler Medien, wie zum Beispiel Texte oder Bilder, Musik oder Videos, Kommentare oder Bewertungen, durch die direkte Interaktion der Nutzer.
Diese Interaktion funktioniert sowohl aus dem Netz in Richtung des Nutzers als Download, als auch umgekehrt vom Nutzer ins Netzwerk hinein als Upload, und entspricht damit genau der Definition eines Mediums durch Marshall McLuhan als „Erweiterung des Menschen“ - und seiner Möglichkeiten [6].
Durch die Interaktion der Nutzer entstehen neue, virtuelle, „soziale Netzwerke“, deren Erfolg weitgehend auf im Internet längst bekannten und etablierten Technologien beruht. Neu ist an diesen Netzwerken allerdings, dass sie sich auch als „Wissensnetzwerke“ interpretieren lassen, worauf Henry Jenkins in seinem Buch „Convergence Culture“ [7] zuerst hingewiesen hat. Und diese „Wissensnetze“ sind weniger durch die Menge des in ihnen versammelten Wissens als vielmehr durch die Methode, wie Wissen in ihnen erworben und vermehrt wird, charakterisiert: Es handelt sich dabei um eine Form des gemeinschaftlichen Wissenserwerbs in einer Gruppe, eben um die direkte Interaktion der Gruppenmitglieder, also der Nutzer.
Nun könnten die eingangs erwähnten „Veteranen“ natürlich einwenden, das alles sei nichts eigentlich Neues, das alles habe es bereits in den Anfangszeiten des Webs gegeben und sind mit dieser Meinung nicht einmal in schlechter Gesellschaft: Auch Tim Berners-Lee vertritt sie. Und in der Tat scheint vieles für diese Auffassung zu sprechen. Enthielt nicht bereits der erste „Mosaic“-Browser auch einen „Editor“? Ließen sich mit ihm also nicht nur HTML-Seiten anzeigen, sondern auch herstellen? Sicher. Allerdings musste, wer den Editor wirklich benutzen wollte, damals auch über wenigstens grundlegende Kenntnisse der Internet-Technologie verfügen.
Das Potenzial war also vorhanden, es dauerte allerdings noch eine Weile bis zu seiner massenhaften Realisierung und Nutzung. Und genau das markiert auch die neue Qualität, also die „2“ im Namen des aktuellen Webs. Die griechischen Philosophen hätten ihre Freude an dem Zusammenhang gehabt! Auch das Web bleibt sich im Wesentlichen gleich, gerade indem es sich ständig erneuert.
Rückblende: Das Internet, ein Massenmedium „neuen Typs“
Bewegen wir uns also für einen Moment auf der Zeitachse, 13 und mehr Jahre, zurück zu den Ursprüngen des Web, so wie Tim Berners-Lee es konzipiert und am CERN vorgestellt hatte. Und wir entdecken nicht nur eine ebenso neue wie geniale Anwendung der IP-Technologie, sondern auch ein Massenmedium „neuen Typs“.
Schon damals zeigte das Internet nicht nur eine allgemeine Beschleunigung der Entwicklung und Vermarktung neuer Technologien an. Die eigentlich dramatische Veränderung, die die Entwicklung des Web, wie schon die des Internet insgesamt, prägte und von allen anderen vorher unterschied, ist die Strategie der Entwicklung auf der Grundlage offener und allgemein zugänglicher Standards. Nur so ist die weltweit vernetzte Zusammenarbeit ansonsten voneinander unabhängiger Wissenschaftler und Techniker denkbar.
Und die ist nicht nur in der Geschwindigkeit, sondern auch in der Qualität der Ergebnisse den Entwicklungsanstrengungen jedes einzelnen Wissenschaftlers, aber auch jedes einzelnen Unternehmens, dessen Mitarbeiterzahl per definitionem endlich ist, überlegen. Genau diese Entwicklungsstrategie auf der Basis offener Standards unterscheidet das Internet von anderen, traditionellen Massenmedien – und zwar sowohl quantitativ, also was die Geschwindigkeit seiner Verbreitung angeht, als auch qualitativ, was seine „Offenheit“, also die Fähigkeit neue Technologien und Anwendungen zu integrieren, anzeigt.
Und genau dieser Entwicklungsstrategie folgte Tim Berners-Lee, als er die offenen Standards der Internet-Technologie, die sogenannten Internet-Protokolle nutzte, um auf deren Grundlage seine eigenen, entscheidenden Beiträge zur Entwicklung des World Wide Web zu konzipieren. Mittels des „Hyper Text Transfer Protocols“ (HTTP) kann jeder Nutzer, neudeutsch „Client“, im Netzwerk eine Anfrage an einen (Web-)Server stellen, die der Server mit Hilfe des gleichen Protokolls durch die Auslieferung der gewünschten Daten beantwortet. Zur Darstellung der in (IP-)Paketen versandten Daten auf der Client-Seite nutzte Berners-Lee die Standards sogenannter „Auszeichnungssprachen“. Mit deren Hilfe entwickelte er seine vergleichsweise unkomplizierte „Hyper Text Markup Language“ (HTML), eine Sprache zur Darstellung der übermittelten Daten auf einer digitalen „Seite“ – eine Metapher, die an die vordigitale Art der Präsentation der Daten auf einer Dokumenten- oder Buchseite erinnert.
Damit hatte Berners-Lee nicht nur alle wesentlichen Elemente zur Übermittlung und Darstellung der Daten im Web entwickelt, durch die Nutzung „offener“ Standards war jederzeit gewährleistet, dass das System bei Bedarf auch weiter entwickelt werden konnte, so dass heute nicht nur Text- und Grafikdaten, sondern eben auch Sprach- oder Videodaten - und zwar in „Echtzeit“ (!) - im Web übermittelt und dargestellt werden können. Designer können sich nicht nur immer neue Gestaltungen für die Darstellung der Daten einfallen lassen, Techniker und Entwickler können ihnen auch immer neue Funktionen und „Logiken“ mit auf den Weg zum Nutzer geben. Das Web erweist sich damit als ebenso anpassungs- wie entwicklungsfähiges System und gerade darin allen anderen Massenmedien überlegen.
In diesem Zusammenhang zeigt sich aber auch, dass das Internet insgesamt sich durch zwei wesentliche Aspekte von allen vorhergehenden Medien grundsätzlich Multimedialität. Waren unterscheidet: durch seine Interaktivität und seine bei allen bisherigen Massenmedien „Sender“ und „Empfänger“ prinzipiell, also sowohl technisch wie auch wirtschaftlich, voneinander unterschieden, so gilt dieses Paradigma im Internet nicht mehr.
Die Fähigkeit, eine Zeitung lesen zu können reichte nicht aus, um sie auch verlegen zu können. Ein Radio kann ein Rundfunkprogramm zwar empfangen, nicht aber senden.
Im Internet kann dagegen grundsätzlich jeder Nutzer mit jedem anderen in Ver-bindung treten, also sowohl „Sender“ als auch „Empfänger“ sein. Die Technik für beide Funktionen ist die gleiche und auch die Kosten unterscheiden sich nicht wesentlich. Je reifer und entwickelter das Internet und seine Nutzer werden, man denke etwa an die „Peer-To-Peer-Netze“ oder die „Social Networks“ des Web 2.0, desto mehr realisiert sich dieses Potenzial.
„Interaktion“ im Sinne der direkten Kommunikation zwischen den Nutzern gab es auch schon vorher, nämlich in der Telefonie. Allerdings war sie auf ein Medium, den Austausch von sprachlichen Mitteilungen beschränkt. Die Datenpakete des digitalen Internets können hingegen alles Mögliche enthalten: Sprache, Bilder oder auch schriftliche Dokumente. Es handelt sich also um ein multimediales Netzwerk. Beides zusammen, seine Interaktivität und seine Multimedialität, unterscheiden das Internet grundsätzlich von allen anderen „linearen“ Massenmedien, machen es also zu einem Massenmedium neuen Typs.
Ein neues Kommunikationsparadigma
Dieses grundlegend neue Kommunikationsparadigma, hervorgebracht durch die Digitalisierung im Allgemeinen und die Internet-Technologie, TCP/IP, im Besonderen, untersuchte Nicholas Negroponte bereits 1995 in seinem bis heute faszinierenden Buch „Total Digital“ [8]. Die Konsequenzen für jede Form „kommerzieller Kommunikation“ reflektierend, sagte dieser Visionär des anbrechenden Internet-Zeitalters: „In Zukunft wird nicht mehr die Werbung um Reaktionen buhlen, sondern sie wird auf die Anforderungen jedes einzelnen potentiellen Kunden reagieren müssen.“ [9]
Was ein Paukenschlag – zumindest in den Ohren der Werber und Marketer – hätte werden können und sollen, verklang allerdings in der Euphorie des anbrechenden ersten Internet-Booms so gut wie unbeachtet. Zu sehr waren die „Interaktiven“, so der wohlklingende Name der neuen Werbedisziplin, noch damit beschäftigt, ihre eigene Existenz gegenüber den „klassischen“ Kollegen zu rechtfertigen und erste Werbekunden ins noch weitgehend unbekannte und nur wenig bevölkerte Web zu begleiten, um auch noch die neuen, gründlich veränderten Rahmenbedingungen des eigenen Tuns reflektieren zu können.
Vielleicht fehlte ihnen aber auch einfach genügend Kreativität und Phantasie, um sich von den alten, durch die konventionellen Massenmedien geprägten Vorstellungen und Techniken lösen zu können. Und so glichen nicht nur die ersten, sondern bis heute die meisten Werbemittel im Web eher herkömmlichen Print-Anzeigen -und später TV-Spots. Wenn nicht in Größe und Gestaltung, wofür dann ausgerechnet „mangelnde Bandbreite“ verantwortlich gemacht wurde(!), dann doch in Tonalität und Wirkung. Keine Spur von Interaktivität - bis auf den erhofften „Ad-Click“- oder gar Personalisierung. Kein einziger Versuch, auf die Interessen und Anforderungen der Nutzer oder gar den gründlich veränderten medialen Zusammenhang der werblichen Kommunikationsbemühungen einzugehen. Stattdessen nur ebenso hilflos wie aggressiv wirkende „Banner“, die immer nur „Klick mich!“ zu schreien schienen.
Und das ist nicht einmal verwunderlich. Brauchen Menschen im Allgemeinen und „Kreative“ im Besonderen doch immer eine gehörige Weile, bis sie entdecken, dass neue Technologien auch ebenso neue Gestaltungsformen erlauben, ja verlangen. Auch die ersten Autos sahen zu Beginn des letzten Jahrhunderts nicht anders aus als Pferdekutschen – nur eben ohne Pferde. Und genauso verhielt es sich mit der Werbung im Web: Sie kam daher wie eine Zeitungsanzeige – nur ohne Papier. Und daran hat sich bis heute bei den meisten Werbemitteln auf den meisten Websites nur wenig geändert. Bei den Autos dauerte es bekanntlich fast dreißig Jahre, bis sie eine eigene Formensprache gefunden hatten. Im Web könnte es, so bleibt wenigstens zu hoffen, deutlich schneller gehen.
Doch zurück auf die „Timeline“. Denn die Defizite der Werber lenken die Aufmerksamkeit nun auf einen weiteren, in der Reflektion wie in der Praxis bislang weitgehend vernachlässigten Aspekt des neuen Kommunikationsparadigmas im Internet: die „Personalisierung“.
Personalisierung und Interaktivität
Stellte schon die Interaktivität des „Massenmediums neuen Typs“ die damit konfrontierten Werber anfangs vor substanzielle Probleme, so berührte die Personalisierung der Kommunikation sogar die Grundfesten des herkömmlichen Verständnisses von Werbung. Ging es doch bislang immer darum, einer jeden „werblichen Aussage“, also den bekannten „messages“, durch die richtige Platzierung in den richtigen Medien, eine möglichst große „Reichweite“ in der Zielgruppe und damit eine ebensolche „Aufmerksamkeit“ zu verschaffen.
In dem Bemühen, diese einmal erlernte und offensichtlich bewährte Arbeitsweise des Marketings auf das neue Medium Web zu übertragen, versuchte man auch, die gern als „Währung“ bezeichneten Kennzahlen für diese Parameter des Kommunikationserfolgs zu etablieren: Zuerst zählte man „Hits“, also Anfragen, die vom Server mit der Auslieferung eines Datensatzes beantwortet wurden. Als die zahlenden Werbekunden begriffen, dass eine HTML-Seite aus mehreren Datensätzen bestehen kann, fasste man diese als „Page Impressions“, zu deutsch „Seitenansichten“, zusammen. Da es aber eigentlich um die Zielgruppe geht, fasste man schließlich die offensichtlich in einem Zusammenhang stehenden Seitenaufrufe zu einer „Session“ zusammen, hinter der dann offenbar ein zu zählender „Unique Visitor“ stehen sollte.
So verfeinerte man Jahr für Jahr zwar Methoden und Ergebnisse der Zählung, löste damit aber nicht das grundsätzliche Problem. Die Nutzer hatten, im Gegensatz zu den Werbern, inzwischen begriffen wie das Internet eigentlich gemeint war und funktionierte. Sie hatten verstanden, dass sie in diesem Massenmedium neuen Typs sowohl Sender als auch Empfänger waren und so mit jedem anderen in Austausch treten konnten.
Jede nicht zu diesem interaktiven Kommunikationszusammenhang passende und gehörende Information wird als Störung oder gar Unterbrechung des Austauschs empfunden und entsprechend behandelt. Sie wird schlicht ausgeblendet (!) - und zwar, von versierten Nutzern, technisch und von allen anderen wenigstens mental. „Click Through“ Raten, bei Bannern und ähnlich konventionellen Online-Werbemitteln inzwischen nur noch im Promille-Bereich messbar, sind ein eindeutiger Beleg dafür. „Personalisierung“, also die Ausrichtung des eigenen Kommunikationsangebots an den aktuellen Interessen der Nutzer, wäre eine Lösung - wenn nicht ein Missverständnis Werber und ihre Kunden ausgerechnet diese Personalisierung hätte fürchten lassen wie den Teufel das Weihwasser. Personalisierung im kommerziellen Kommunikationszusammenhang bedeutet doch eben nicht die (Selbst-)Beschränkung auf den individuellen „1:1“ Dialog, was den Zielen „Reichweite“ und „Aufmerksamkeit“ in der Tat diametral entgegen stehen würde, sondern schlicht die Einbeziehung der Person(a), also der allgemeinen Interessen und des aktuellen Nutzungsprofils des Kommunikationspartners.
Die Kenntnis eines solchen Profils, seines historisch gewachsenen Hintergrundes wie seiner aktuellen Ausprägung, wäre ausreichend, um dazu passende Angebote, durchaus auch kommerziellen und werblichen Charakters, machen zu können. Doch woher sollte der arme Werber wissen, was den Nutzer gerade bewegt und interessiert? Man könnte ihn einfach fragen! Zumal in einem interaktiven Medium. Wie etwa in einer Online-Community. Aber auf einem reichweitenstarken „Portal“, der „natürlichen“ Umgebung für Online-Werbung, mit anfangs tausenden, später auch Millionen von unbekannten Nutzern? Das war noch vor zehn Jahren unvorstellbar. Der „Segen“ des Internets, der unmittelbare Zusammenhang von persönlicher und empfundener Nähe und realer Anonymität der Kommunikationspartner, wird hier scheinbar zum Fluch für das Online-Marketing. Und bis zur Lösung dieses Problems sollte es noch einige Jahre dauern.
Online-Marketing und die „Dotcom“-Blase
Da sich keine Lösung abzeichnete, während gleichzeitig der wirtschaftliche Erfolgsdruck auf die „Interaktiven“ zunahm, versuchten (Internet-)Agenturen und Online-Marketing-Strategen das Problem zu leugnen oder zumindest gegenüber den Werbekunden „unter dem Deckel“ zu halten. Man schürte sogar weiter irrationale Hoffnungen angesichts des boomenden und immer weiter gehypten Webs, machte für die inzwischen nachgewiesene Erfolglosigkeit des hilflosen Vorgehens Gott und die Welt verantwortlich – nur nicht das eigene Unverständnis des neuen Mediums.
Euphorie und Depression angesichts desaströser Erfolgsbilanzen bescherten Interaktiven und Kunden, Märkten und Analysten ein Wechselbad der Gefühle, aber keine neuen, gar verwertbaren Erkenntnisse. Im Gegenteil wurde auch der Hype um eine angeblich entstehende „New Economy“ weiter geschürt, in der bekannte und etablierte wirtschaftliche Methoden und Ziele nicht mehr gelten sollten. Messbare Erfolge, gar Gewinn seien nur etwas für Angsthasen, war damals ein gern zitierter Spruch auf den Foren und Kongressen der Ahnungslosen zwischen Silicon Valley und München.
Kein Wunder, dass diese „Blase“ irgendwann platzen musste, dass es blitzartig vom Gipfel des Hypes ins Loch der Depressionen ging - mit den bekannten Folgen für die Internet-Wirtschaft im Allgemeinen und das Online-Marketing im Besonderen. Doch bekanntlich ist die Nacht immer dann am dunkelsten, wenn der erste Sonnenstrahl des neuen Tages am nächsten ist.
Und der erschien in der grauen und verstörten Web-Welt in Gestalt eines bunten Logos und der jungenhaften Gesichter zweier Studenten der kalifornischen Stanford University. Sein Name klang so fremd und exotisch wie der eines fremden Sterns: Google.
Warum die Suche im Internet erst durch Google richtig schön wurde
Zwar hatten auch die Google-Gründer Serge Brin und Larry Page 1998 noch keine Lösung für die existenziellen Probleme des Online-Marketings bei der Hand, ja nicht einmal ein nennenswertes Geschäftsmodell für ihr gerade gegründetes Unternehmen vorzuweisen. Dafür aber hatten sie eine geniale Idee realisiert: Eine Suchmaschine, die die Relevanz und Bedeutung der Suchergebnisse in Abhängigkeit vom Grad ihrer Verlinkung, also der Qualität ihrer Vernetzung, interpretierte und darstellte. Sie hatten den „Page Rank“ erfunden!
Das klingt heute ebenso einfach wie logisch, war aber mehr und besser als alles, was die bekannten Suchmaschinen im Web, von „Altavista“ bis „Hotbot“ damals zu bieten hatten. Doch die „New Economy“ und die Online-Werber hatten zu der Zeit wahrlich andere Sorgen und andere Hoffnungen als ausgerechnet eine neue Suchmaschine und deren genialen Algorithmus. Das war ein Thema für „Geeks“, die zwar notwendigen, aber ebenso wenig geliebten wie verstandenen Technik-Freaks der Internetszene.
Die Internetnutzer sahen das allerdings anders. Sie verstanden und liebten Google. Vielleicht nicht die Technik, sicher aber deren Ergebnisse. Deshalb nutzten sie die Suchmaschine entsprechend und machten sie in kürzester Zeit zu einer der beliebtesten „Destinationen“ im Web. „Googeln“ wurde bald zum Synonym für die Suche im Internet.
Mit dem Erfolg stiegen allerdings auch die Kosten für die Unternehmung. Nur ein Geschäftsmodell für das Erfolgsmodell war immer noch nicht in Sicht. Bis Eric Schmidt, ein Silicon-Valley-Veteran und erfahrener IT-Manager den „Googleplex“ betrat und den erstaunten Gründern erklärte, dass sie auf einer Goldgrube säßen. Eric Schmidt war der erste, der den wahren, geschäftlichen Wert der Page-Rank-Technologie erkannt hatte.
Wenn eine Suchmaschine in der Lage ist, den Nutzern immer genau die Ergebnisse anzuzeigen, die ihnen am wichtigsten sind, dann „weiß“ die Suchmaschine auch, was die Nutzer in diesem Moment am meisten interessiert, was sie also wirklich suchen und wissen wollen. Was liegt also näher, als den Nutzern, neben den eigentlich relevanten Ergebnissen ihrer Suche auch kommerzielle Angebote anzuzeigen, die diesem Interesse ebenso genau entsprechen? Und die Nutzer, so Schmidts Erwartung, würden sich durch die kommerziellen Angebote, die in einem direkten Zusammenhang mit dem eingegebenen Suchbegriff und den angezeigten Ergebnissen stehen, nicht einmal gestört, sondern eher in ihren Interessen unterstützt fühlen. Eine echte „Win-Win-Situation“ für alle Beteiligten. Wer gerade ein Hotel in Paris sucht oder auch eine Backup-Strategie für den heimischen PC, fühlt sich tatsächlich durch entsprechende kommerzielle Angebote nicht gestört, sondern verstanden und unterstützt. Und derjenige, der mit diesem Verfahren sicher weiß, dass sein kommerzielles Angebot nicht als „disruptive“, störende Werbung, sondern als zusätzliche und willkommene Information angesehen wird, ist natürlich auch gern bereit, dafür gutes Geld zu zahlen – schließlich hat kein anderes Medium ein besseres „Umfeld“ für die kommerzielle Kommunikation zu bieten.
Was lag also näher, als die Preise für die begehrte Positionierung des Werbemittels in unmittelbarem Zusammenhang mit besonders populären Suchbegriffen nicht durch eine statische Preisliste, sondern durch dynamische Auktionen definieren zu lassen? Und bezahlt, so das „I-Tüpfelchen“ auf Schmidts bahnbrechendem Geschäftsmodell, wird nicht mehr irgendeine diffuse „Aufmerksamkeit“, sondern nur noch die erwünschte Nutzerreaktion: sein Klick auf die Anzeige. „Cost Per Click“ (CPC) machte das neue „Suchmaschinenmarketing“ nicht nur preiswert, sondern etablierte endlich eine so lange gesuchte und sehnlich erwünschte „harte Währung“ für die Online-Werbung.
Durch die Beschränkung auf Textanzeigen, um den Nutzer nur ja nicht zu stören, sondern ihm das Gefühl der Unterstützung und Begleitung seiner Interessen zu vermitteln, konnte man neben den Online-Media- auch gleich die Online-Marketing-Agenturen aus der Wertschöpfung entfernen; und damit en passant noch die freien Budgets der Kunden für die Ad-Word-Auktionen erhöhen. „Direct Economy“ im modernen Web-Gewand!
Der Rest ist Online-Marketing-Geschichte: Google wurde mit dieser Strategie nicht nur die mit weitem Abstand populärste Suchmaschine mit einem Marktanteil von mehr als 50 Prozent im Web, sondern auch zum Treiber des Erfolgs der Online-Werbung. Über 10 Milliarden US-Dollar setzte Google im Geschäftsjahr 2006 damit um – über 40 Prozent des gesamten Volumens der Online-Werbung [10].
Damit verschaffte sich Google das notwendige Kapital, um nicht nur die Suche und das Sucherlebnis im Web zusammen mit entsprechenden Werbeformen zu optimieren, sondern auch um weit darüber hinaus zukünftig für das Geschäftsmodell relevante Bereiche zu entwickeln oder einzukaufen. Der Kauf der innovativen Video-Plattform YouTube und des Online-Marketing-Dienstleisters DoubleClick sind für den Erfolg dieser Strategie ebenso gute Beispiele, wie der Angriff auf das Geschäftsmodell der etablierten Software-Industrie durch immer neue, kostenlose Applikationen. All das ist nicht nur gut für die Nutzer, denen Online-sich damit neue und „wohlfeile“ Möglichkeiten eröffnen, sondern verschafft Google gleichzeitig auch immer neue Plattformen, Umgebungen und Möglichkeiten für den Verkauf weiterer Online-Werbemittel.
Nun wäre es entweder naiv oder unzulässig vereinfachend, wollte man den späten Erfolg des Online-Marketings allein Google und Eric Schmidt gutschreiben. Wie immer hat der Erfolg viele Väter. Einer davon blieb in den Zeiten der Depressionen nach der geplatzten New-Economy-Blase lange unbeachtet – auch weil die mit ihm einhergehende, neue Qualität der Internetnutzung lange unter der Schwelle medialer und analytischer Wahrnehmung blieb. Denn als „Märkte“ und „Medien“ gerade überhaupt nichts mehr vom Internet wissen wollten, entschieden sich immer mehr Nutzer still und heimlich für eine neue, preiswertere und komfortablere, also einfach bessere Art des Zugangs zum Internet.
Die heimliche Revolution: Breitband-Internet-Zugang
Der sogenannte „Breitband-Zugang“, in Deutschland meist als „Digital Subscriber Line“, DSL, über das Telefonnetz, in den USA häufig auch über das TV-Kabel-Netz und in Asien teilweise schon über Glasfaser realisiert, brachte den Nutzern, ob im privaten Umfeld oder auch in kleinen Unternehmen, zahlreiche und deutliche Vorteile. Nicht nur die Geschwindigkeit des Datentransports, auch die Qualität und der Komfort der Vernetzung nahmen merklich zu.
Keine nervenaufreibende Modem-Konfiguration und keine plötzlichen Verbindungs-abbrüche mehr. Auch datenintensive Angebote, wie Musik und Video oder 3D-Welten aus dem Internet waren durch Breitband erstmals auch für private Nutzer zugänglich und erhöhten die Attraktivität des Mediums genauso wie die Möglichkeiten des Nutzers. Und das Beste: Mit einem Breitband-Zugang war der Nutzer immer online mit dem Internet verbunden. Die darauf basierenden Flatrate-Angebote der Provider machten die Nutzung des deutlich attraktiver gewordenen Mediums auch noch preiswerter.
Damit wurde das Internet nicht nur zur Plattform für alle möglichen Interessen und Arten der Nutzung. Es wird auch intensiver, häufiger und länger genutzt: immer mehr Alltagsaktivitäten, von der privaten Kommunikation über Unterhaltung und Information bis zum Einkauf werden zunehmend im Internet realisiert. So stieg in den letzten Jahren die Dauer der täglichen Internet-Nutzung auf 80 Minuten pro Tag und der Anteil der Internet-Nutzung an der gesamten privaten Mediennutzung auf 14,6 Prozent [11].
Und wie so oft braucht die Werbeindustrie am längsten, um diesen seit Jahren anhaltenden Trend zu realisieren. So liegt der Anteil des Online-Marketings am gesamten Werbemarkt in Deutschland immer noch bei lediglich 8,9 Prozent. Dieses „Delta“ zwischen Nutzung und Werbebelegung wird sich schließen – und damit in absehbarer Zeit für ein weiter überproportionales Wachstum der Online-Werbung sorgen.
Da das Zeitbudget für die Mediennutzung aber nicht ohne Weiteres zu steigern ist, bedeutet die Zunahme der Internet-Nutzung tendenziell eine zu erwartende Abnahme der Nutzung anderer Medien. Was für Zeitungen und Radio heute schon sichtbar ist, wird über kurz oder lang auch das Fernsehen ereilen. Zumal wenn das „Internet-Fernsehen“, IP-TV, und innovative Video-On-Demand-Dienste ähnliche, wie auch ganz neue, etwa von den Nutzern selbst hergestellte Inhalte deutlich attraktiver, zum Beispiel ohne Unterbrecher-Werbung, zur Verfügung stellen können.
Wir erleben also einen Trend zur Konvergenz. Das bedeutet nun keineswegs, dass die „neuen“ alle traditionellen Massenmedien verdrängen oder gar ersetzen werden. Das hat es in der Geschichte der Medien nie gegeben und steht auch heute nicht zu erwarten.
Konvergenz der Technologien und Differenzierung der Nutzung
Was wir heute als „Konvergenz der Medien“ bezeichnen, ist eigentlich eine technische Konvergenz der digitalen Netzwerke, die diese Medien transportieren – genauer gesagt die Globalisierung der Internet-Architektur. Die durch dieses globale Netz vermittelten Inhalte dagegen unterliegen, wie alle anderen Angebote darin, den Regeln der Interaktivität und Personalisierung, das heißt sie entfernen und differenzieren sich zunehmend voneinander.
Konvergenz begründet sich heute weniger aus technischen, sondern primär aus wirtschaftlichen Zusammenhängen. So besteht zwar die Bedingung der Möglichkeit einer Konvergenz in der Digitalisierung der Inhalte – in einem Netzwerk und den daran angeschlossenen Endgeräten können alle möglichen digitalen Inhalte und Funktionalitäten zur Verfügung gestellt werden, hinreichend für die praktische Realisierung ist aber erst ein darin enthaltener wirtschaftlicher Vorteil. So wird diese Möglichkeit heute deswegen so verbreitet genutzt, weil nicht nur Transport und Verteilung, sondern auch die Inhalte selbst in diesem Netzwerk preiswerter sind als in allen herkömmlichen Medien.
Insofern kann die technische Konvergenz gleichzeitig auch eine inhaltliche Differenzierung der digitalen Medien bedeuten. Genau das erleben wir heute tagtäglich: Eine bislang ungeahnte Vielfalt digitaler Inhalte wird massenhaft im Internet angeboten und zwischen den Nutzern ausgetauscht, ob es der Medien- und der Unterhaltungsindustrie gefällt oder nicht.
Von Blogs und Wikis, Foto- und Video-Plattformen
Diese Differenzierung der Nutzung digitaler Medien und des Internets wird im Web 2.0 auf die Spitze getrieben: In den Blogs und Wikis, den webbasierten Tagebüchern, Linksammlungen und Kollaborationsplattformen, den Foto- und Video-Plattformen, kurz in all den neuen „Sozialen Netzwerken“ des Web 2.0 tritt der Nutzer auch als Produzent und Distributor der digitalen Inhalte auf. Dabei nutzt er keineswegs nur „eigene“, von ihm selbst hergestellte Inhalte, sondern reichert diese mit anderen an, kombiniert sie zu „Remixes“ und „Mash-Ups“. Er hat dabei alles, nur kein Geschäftsmodell oder die Wertschöpfung im Sinn.
Dabei steht er objektiv im Wettbewerb mit der einstmals mächtigen Medien- und Unterhaltungsindustrie: YouTube ist längst zur höchst realen Konkurrenz von RTL und ARD geworden, Blogs nehmen Zeitungen und Zeitschriften Leser ab und Wikis sind als Mittel der Wissensvermittlung auch in einigen Unternehmen heute bereits unverzichtbar.
Nur Geld verdienen lässt sich damit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht. Da diese Entwicklung aber nicht von einem Geschäftsmodell getrieben wird, sondern von den ganz unterschiedlichen, persönlichen Interessen der Nutzer und digitalen (Ko-)Produzenten, spielt das zunächst keine wesentliche Rolle für den Erfolg all dieser Unternehmungen. Zumal die digitalen Produktionsmittel, genau wie der Internet-Zugang, unterdessen immer preiswerter werden, wenn sie nicht, wie Open-Source-Software, ganz kostenlos zur allgemeinen Verfügung stehen.
Das Internet ist im Laufe der letzten Jahre also sowohl zu einer wesentlichen Schlagader der globalen Wirtschaft geworden, durch die bereits 10 Prozent des gesamten Welthandels fließen. Gleichzeitig wurde es zum Totengräber etablierter Geschäftsmodelle und – wie es den Anschein hat – ganzer Industrien. Andererseits etablierten sich im Internet, in Form der „Social Networks“, virtuelle Wissensnetze, in denen es, wie wir gesehen haben, nicht um die Menge und schon gar nicht die Verwertung des dort versammelten Wissens, sondern um die gemeinschaftliche Methode des Wissenerwerbs geht [6].
Ausgestattet mit diesem Wissen und immer neuen, frei verfügbaren Produktionsmitteln, entwickelte sich in den letzten Jahren im Internet also auch ein neuartiges „Medien-Handwerk“ – eine neue „cottage-industry“ digitaler Heimwerker. Es entzieht sich weitgehend der Verwertung und hat bisher noch kein eigenes Geschäftsmodell gefunden, während es die Geschäfte der etablierten Medien- und Unterhaltungsindustrie zunehmend herausfordert und gefährdet.
Die neue Macht im Netz: Nutzer und (dann erst) Kunde
Die Monopolisierung der vertikalen Wertschöpfungskette vom Hersteller bis zum Endkunden, also das wirtschaftliche Ziel jeder traditionellen Medienstrategie, funktioniert in der digitalen Wirtschaft des Internet-Zeitalters und erst recht im Web 2.0 also nicht mehr, einfach weil sich die Wertschöpfung in einem Netzwerk anders vollzieht, nämlich durch die in ständig wechselnden Rollen und Funktionen an der Wertschöpfung beteiligten Partner. Insofern handelt es sich bei der vernetzten Wertschöpfung auch weniger um die bekannte „Wertschöpfungs-Kette“ als um ein neuartiges „Wertschöpfungs-Netz“, in dem alle Beteiligten vom Produzenten bis zum Endkunden in immer wieder neuen Konstellationen miteinander interagieren.
„Vernetzung“ wird im Laufe dieser Entwicklung immer mehr zu einer Selbst-verständlichkeit und ebenso genutzt – und damit schließlich zu einem „Lifestyle-Phänomen“. Während die Wirtschaft sich einem Lifestyle – wenn überhaupt - nur im Sinne seiner Verwertung widmen kann, wird er vom Nutzer als „Zeitgenosse“ nicht nur konsumiert, sondern (er-)lebt und bewusst oder unbewusst vorangetrieben. Damit wird dieser Nutzer zum Zentrum und zur treibenden Kraft des Trends. Hersteller und Händler haben nur zu den von ihnen selbst produzierten und verkauften Komponenten der Vernetzung einen unmittelbaren Zugang und sind ansonsten auf Zulieferung und Kooperation mit anderen angewiesen, um an der Wertschöpfung teilnehmen zu können.
Der Nutzer-Kunde hingegen verfügt in seiner Nutzerrolle als Einziger über eine direkte Beziehung zu allen an der Wertschöpfung beteiligten Komponenten und Technologien. Nicht nur indem er sie erwirbt, sondern vor allem und insbesondere indem er sie nutzt, um mit anderen in Austausch zu treten und zu kommunizieren. Dieser informierte und emanzipierte Nutzer-Kunde wird damit nicht nur zum wesentlichen Faktor innerhalb eines weltweit vernetzten Systems, er wird selbst vom Objekt der Wertschöpfung zum handelnden und entscheidenden Subjekt der Vernetzung.
Von „Digital Natives“ und „digitalen Immigranten“
Unschwer ist zu erkennen, dass wir uns mitten in einer für Beobachter wie Akteure verwirrenden Entwicklung, in einer Zeit des fundamentalen Umbruchs etablierter Geschäfts- und Kommunikationsmodelle befinden, die sich zusammenfassend durch drei wesentliche Aspekte charakterisieren lässt:
• Konzentration und Konsolidierung der Online-Marketing-Industrie
• Partikularisierung der Online-Medien und Personalisierung ihrer Nutzung
• Marken werden im Dialog mit dem Nutzer-Kunden zum Subjekt und Objekt einer weltweiten Konversation und kehren damit aus der Kontrolle der Marketer gewissermaßen wieder zu ihrem Ursprung zurück.
Die sogenannten Internet-Spezialisten haben sich darauf geeinigt, zur Beschreibung dieser Situation nun den schillernden Begriff Web 2.0 zu verwenden – zumindest bis sie einen besseren gefunden haben. Wie die digitale Wirtschaft jenseits des aktuellen „Runs“ davon profitieren kann, ist noch nicht absehbar. Das gilt erst recht für das Online-Marketing beziehungsweise die weit darüber hinausgehende kommerzielle Kommunikation im Internet.
Nicholas Negroponte hat der Branche einen entscheidenden Impuls für die Richtung der Ideenfindung mitgegeben. Mit weniger wird sie sich nicht zufrieden geben. Nur das Ergebnis seines Ansatzes, eine praktische Methode der interaktiven und personalisierten kommerziellen Kommunikation, blieb er uns schuldig. Wenn es aber für die kommerzielle Kommunikation in Zukunft wesentlich darum geht, auf die Anforderungen jedes einzelnen potentiellen Kunden adäquat zu reagieren, müssen neue Formen des Austausches, Foren für das Gespräch zwischen Marken und Kunden gefunden und etabliert werden. Die Unternehmen im Allgemeinen und das Marketing im Besonderen müssen also ihre „Elfenbeintürme“ verlassen und sich hinaus auf die (virtuelle) Straße begeben, um dort, wie es das „Cluetrain Manifesto“ schon vor Jahren richtig forderte, auf „Augenhöhe“ mit dem jeweiligen Kommunikationspartner und mit „menschlicher Sprache“ in einen andauernden und nachhaltigen Dialog zu treten [12].
„Märkte sind Konversationen.“ Richtig. Nur heute, mit allen Möglichkeiten und Techniken des Web 2.0 ausgestattet, sind die Gesprächsteilnehmer gebildeter und besser informiert denn je - sicher besser informiert als die beste Marketingabteilung. Und jede Information, aber auch jedes Gerücht verbreitet sich in den sozialen Netzen des Webs in Echtzeit. Das müssen Marketer heute wissen. Einmal, um solche Effekte selbst nutzen zu können – „Word Of Mouth“ oder „Mundpropaganda“ nennt man heute (wieder) diese Disziplin. Aber sie müssen es auch wissen, um überhaupt als Gesprächspartner akzeptiert zu werden, erst recht, um den Gesprächen eigene Ideen und Impulse beisteuern, ihnen auch mal eine neue Richtung geben zu können.
Märkte sind Gespräche. Und „Word of Mouth“, also das Gespräch und die Empfehlung zwischen Freunden und vertrauten Bekannten, ist sicher eine der ältesten Marketing-Techniken der Menschheit, so alt wie Lagerfeuer, Kneipen und Fußballplätze. Älter als alle „modernen“ Massenmedien jedenfalls - und offenbar wirkungsvoller. Insbesondere wenn sie, ausgestattet mit allen Effekten und technischen Vorteilen intensiver und globaler Vernetzung, in virtuellen Umgebungen stattfinden, in einer Sprache, die der kommerziellen Kommunikation fremd ist. Doch müssen all diejenigen, die kommerzielle Kommunikation heute unter den Bedingungen von Web 2.0 betreiben wollen, sie erlernen.
Denn gerade diese informellen, oft schnörkellos und zuweilen ruppig geführten Gespräche sind ein wesentlicher Ausdruck jenes digitalen „Lifestyles“, der – wie das ganze Web 2.0 – wesentlich durch eine bestimmte Haltung geprägt ist. Es handelt sich um den Lifestyle der von Mark Pensky schon 2001 so genannten „Digital Natives“. Er bezeichnete damit die junge Generation, die in einer digitalen Welt geboren und groß geworden ist, für die der Umgang mit dem Internet und dem Handy, mit digitalen Medien und deren Remixes, so selbstverständlich ist wie das tägliche Brot. Für alle anderen, heute älter als 25 Jahre, ist diese Welt immer in gewisser Weise fremd geblieben. Sie sind sozusagen „digitale Immigranten“. Wie jeder andere Einwanderer auch, müssen sie die Regeln und Werte, Sprache und Geschäftmodelle der neuen Heimat erst erlernen, um sie dann, mehr oder weniger mühsam, auch anwenden zu können. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der das Online-Marketing heute steht - sicher die größte in seiner jungen Geschichte. Ein langer und beschwerlicher Weg liegt vor uns. Aber auch ein lohnendes Ziel – nicht nur für Marketer. Denn an seinem Ende könnte eine Erkenntnis warten, die die Google-Gründer bereits hinter sich haben dürften: Am Anfang einer Erfolgs-Story steht nur selten ein Geschäftsmodell – aber immer eine geniale Idee.
Literatur
[1] http://www.w3.org/History/1989/proposal.html © World Wide Web Consortium, Massachusetts Institute of Technology, Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique, Keio University. All Rights Reserved. http://www.w3.org/Consortium/Legal/
[2] http://www.isoc.org/internet/history/brief.shtml
[3] http://www.ftd.de/technik/medien_internet/:WPP Microsoft RennenWerber/202246.html
[4] Technorati Gründer David Siffry veröffentlicht jedes Quartal ein Update zum „State of the Blogosphere“ in: http://www.sifry.com/alerts/archives/000493.html, YouTube: vgl.: http://www.marketwatch.com/news/story/Story.aspx?guid=%7B5321F557-E82D-4D70-826B-D5B27C02E5B7%7D&siteid=
[5] http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html
[6] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle Understanding Media: Düsseldorf (Econ), 1992; ©1964 by Marshall McLuhan. - S. 344, ISBN: 978-3436010805.
[7] Henry Jenkins: Convergence Culture. - S. 54, ISBN: 0814742815, New York University Press, 2006.
[8] Nicholas Negroponte: Total Digital. - 256 S., ISBN: 0679439196, Knopf, 1995.
[9] „Instead of advertisers soliciting response, they’ll have to respond to the solicitations of potential customers.“ Zitat nach Schrage, M. (1994): „Is Advertising Dead?“ in: Wired 2.02, Übersetzung Ossi Urchs, February 1994.
[10] http://www.ftd.de/technik/it_telekommunikation/49754.html?p=2, Seither (2005) sind die Marktanteile von Google sowohl bei der Suche wie auch bei der Suchmaschinenwerbung weiter gestiegen.
[11] „Timebudget 12“ - Studie der FORSA im Auftrag von SevenOne Media, Unterföhring 2005, S. 14 und Seite 19: Internetnutzung allgemein 59 Minuten/Tag, DSL-Nutzer 116 Minuten/Tag; zum „Delta“ zwischen Internetnutzung und Volumen des Online-Werbemarktes vgl.: Internet World Business 6/07, S. 21, 19.03.07.
[12]Rick Levine et al.: The Cluetrain Manifesto - The End of Business as Usual; p. XIV, Thesis 25ff, ISBN: 0738202444, Perseus Books, 2000; Online unter: http://www.cluetrain.com/
http://buchblog.marketing-boerse.de
http://www.marketing-boerse.de/Info/details/LeitfadenOM
13 Jahre ist das World Wide Web gerade mal alt. „Schon“, werden die einen denken, diejenigen, die von Anfang an oder doch seit den Frühzeiten dabei sind. „Erst“, werden andere meinen, die sich an eine Welt ohne das Internet in Gestalt des Web, in der es ja für eine breitere Öffentlichkeit erst sichtbar und erlebbar wurde, nicht einmal mehr erinnern können. Und doch könnte man sich bereits vortrefflich über die korrekte Zeitangabe streiten.
Bereits seit 1980 hatte sich Tim Berners-Lee mit einem „Hypertext-System“ beschäftigt, das es durch „Verlinkung“ erleichtern sollte, Dokumente und Personen in einem Netzwerk ausfindig zu machen. Aus dem Jahr 1989 stammt sein, inzwischen legendärer Vorschlag, zu einem auf diesem Konzept beruhenden „Mesh“ am europäischen (!) Forschungszentrum CERN [1]. „World Wide Web“ nannte er damals seinen schnell auf einer „Next“ Workstation zusammengehackten „Browser“, zur Darstellung der Seiten in seinem Mesh. Aber erst 1994 begründete Tim Berners-Lee das „World Wide Web Consortium“ (W3C), das seither die Entwicklung des am schnellsten gewachsenen Massenmediums in der Geschichte medialer Kommunikation beaufsichtigt.
Wer sich noch an die Anfänge des Web erinnert, an den legendären „Mosaic“-Browser, den ein junger Student namens Marc Andreessen gerade der staunenden WWW-Newsgroup vorgestellt hatte, wer auch die Diskussionen noch im Ohr hat, ob nun „Gopher“ oder das World Wide Web „the next big thing“ im Internet werden würde, wer die hitzigen Debatten in der Mailbox- und Hacker-Szene genau so verfolgt hat, wie die Podiumsdiskussionen erster „Entscheider“ in der gerade entstehenden „digitalen Wirtschaft“, ob damals noch proprietäre Onlinedienste wie CompuServe, AOL und T-Online nicht auf die IP- und Web-Technologien umstellen müssten, um zu überleben, wer mithin ein veritabler „Web-Veteran“ ist, wird nicht umhin können, die im Titel gestellte Frage kurz und bündig zu beantworten: „Alles und nichts.“
„Panta Rhei“ nannten bereits die Philosophen der „alten Griechen“ dieses merk-würdige Phänomen: „Alles fließt“. Und meinten damit: Wie ein Fluss immer derselbe bleibt, auch wenn jeder einzelne Tropfen Wasser in ihm immer wieder neu ist, so bleibt etwas immer gleich, gerade indem es sich ständig verändert. Und genau so verhält es sich auch mit dem Web. Das könnte man nun an jedem einzelnen seiner wesentlichen Entwicklungsschritte untersuchen und wohl auch belegen.
Aber hier soll es ja nicht um „eine kleine Geschichte“ des Web und des Internet in den letzten 13 Jahren gehen. Die ist an anderer Stelle bereits geschrieben und dokumentiert worden – von jenen, die sie nicht nur erlebt, sondern auch und vor allem gestaltet haben [2]. In diesem Buch geht es vielmehr um die Entwicklung des Online-Marketings. Ein durchaus lohnendes Objekt der Betrachtung, wenn man bedenkt, dass der Online-Werbemarkt, im Jahr 1994 noch nicht einmal existent, im vorigen Jahr weltweit ein Umsatzvolumen von 33 Milliarden US-Dollar generierte [3].
An dieser Stelle soll das Thema allerdings einmal nicht aus der „Sicht der Märkte“, sondern aus einem verwunderlicherweise immer noch ungewohnten Blickwinkel betrachtet werden: aus der Perspektive der Nutzer und – wenn die Marketingbemühungen denn gelingen - Kunden.
Nicht zuletzt weil dieser Nutzer im Verlauf der ebenso engagiert wie oft oberflächlich geführten Debatte um das aktuelle „Web 2.0“ endlich in den Mittelpunkt des Interesses der Anbieter gerückt ist. Dahin also, wo er hingehört und wo er, zumindest im Internet, eigentlich schon immer war.
Web 2.0 - (m)eine Definition
Schaut man sich die in den letzten Jahren immer intensiver und engagierter geführte Debatte um das „Web 2.0“, die gelegentlich fast die Züge eines Glaubenskrieges anzunehmen scheint, etwas genauer an, stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei dem debattierten Phänomen eigentlich um einen „Hype“ oder um einen veritablen, nachhaltigen Trend handelt.
Bei einem Trend handelt es sich im Allgemeinen um eine eher langfristige Entwicklung in eine bestimmte Richtung, wobei das Ziel aber noch nicht genau auszumachen ist. Er gibt also eine Richtung an, eine Tendenz, aber noch kein absehbares Ergebnis. Anders der Hype: Hier handelt es sich um eine eher kurzfristige Entwicklung, eine Welle, man könnte auch sagen, um eine „Über-Mode“. Und wie jede Mode ist der Hype gemacht, und zwar mit dem Ziel, ein Thema zu setzen beziehungsweise zu besetzen, das bewegt.
Nach dem Modell der berühmten „Hype-Kurve“ des amerikanischen Markt-forschungsinstituts Gartner wird ein (Technologie-)Hype normalerweise von einer technischen Entwicklung ausgelöst, die sehr schnell an Aufmerksamkeit gewinnt, bis sie auf einem Gipfel überzogener und nicht einlösbarer Erwartungen ankommt. Auf Grund dieser Enttäuschung nimmt die Aufmerksamkeit für den Hype genau so schnell ab, wie sie vorher zugenommen hatte. Doch unter der Oberfläche medialer Wahrnehmung begeben sich diejenigen, die sich inzwischen mit der Entwicklung und ihrem Potenzial vertraut gemacht haben, auf den „Pfad der Erleuchtung“, entdecken also neue, manchmal bahnbrechende Anwendungsmöglichkeiten, die den Hype schließlich auf ein stetig ansteigendes Niveau der Produktivität und Vermarktung führen – um so schließlich aus dem Hype einen Trend zu machen.
Das klingt nun ganz und gar vertraut und passend, man könnte geneigt sein, das Phänomen „Web 2.0“ endgültig in der „Hype-Schublade“ abzulegen - und wäre der Bedeutung des ebenso schillernden wie ungenauen Begriffs um keinen Deut näher gekommen. Weder hätte man eine Erklärung für die Emotionalität der Debatte gefunden, die die einen schäumend von den „Klowänden des Internet“ reden lässt, während andere das gleiche Web 2.0 wie einen Kindergeburtstag als „Mitmach-Web“ feiern. Noch hätte man eine schlüssige Erklärung für die geradezu unglaubliche und massenhafte Attraktivität, die das Web in seiner zweiten Inkarnation bei den Nutzern genießt: Mehr als 70 Millionen Weblogs gibt es inzwischen und tagtäglich werden mehr als 100 Millionen Videos auf YouTube aufgerufen [4].
Der „Urheber“ des Begriffs, der amerikanische Publizist und Verleger Tim O’Reilley hat versucht, sich ihm mittels einer „Meme Map“ [5] zu nähern. In deren Zentrum hat er versammelt, was das Web 2.0 wesentlich ausmacht: Das Verständnis des ganzen Webs als Plattform, auf der die Nutzer ihre eigenen Daten selbst verwalten und kontrollieren. Darüber steht, worin Web 2.0 sich heute zeigt: etwa in der Interaktion mit statt in der Herausgabe von digitalen Medien, in radikaler Dezentralisierung und radikalem Vertrauen innerhalb eines Netzwerkes. Unter all dem sieht man, was nach O’Reilley zum Erfolg des Phänomens beigetragen hat. Darunter ist ein Statement von entscheidender Bedeutung: Web 2.0 ist vor allem „eine Haltung, keine Technologie“.
Kurz zusammengefasst ist Web 2.0 also weder eine Technologie, noch gar ein Geschäftsmodell, sondern vor allem ein „Lifestyle“. Ein digitaler Lifestyle, der sich wesentlich in einer neuen Form der Nutzung digitaler Medien zeigt. Der Nutzer selbst wird dabei vom ehemals passiven Zuschauer und Medienkonsumenten zu einem neuartigen und (inter-) aktiven „(Ko-)Produzenten“ digitaler Medien.
Und damit wären wir schließlich bei (m)einer Definition des Web 2.0 angekommen: Der Begriff „Web 2.0“ bezeichnet den Austausch persönlicher, digitaler Medien, wie zum Beispiel Texte oder Bilder, Musik oder Videos, Kommentare oder Bewertungen, durch die direkte Interaktion der Nutzer.
Diese Interaktion funktioniert sowohl aus dem Netz in Richtung des Nutzers als Download, als auch umgekehrt vom Nutzer ins Netzwerk hinein als Upload, und entspricht damit genau der Definition eines Mediums durch Marshall McLuhan als „Erweiterung des Menschen“ - und seiner Möglichkeiten [6].
Durch die Interaktion der Nutzer entstehen neue, virtuelle, „soziale Netzwerke“, deren Erfolg weitgehend auf im Internet längst bekannten und etablierten Technologien beruht. Neu ist an diesen Netzwerken allerdings, dass sie sich auch als „Wissensnetzwerke“ interpretieren lassen, worauf Henry Jenkins in seinem Buch „Convergence Culture“ [7] zuerst hingewiesen hat. Und diese „Wissensnetze“ sind weniger durch die Menge des in ihnen versammelten Wissens als vielmehr durch die Methode, wie Wissen in ihnen erworben und vermehrt wird, charakterisiert: Es handelt sich dabei um eine Form des gemeinschaftlichen Wissenserwerbs in einer Gruppe, eben um die direkte Interaktion der Gruppenmitglieder, also der Nutzer.
Nun könnten die eingangs erwähnten „Veteranen“ natürlich einwenden, das alles sei nichts eigentlich Neues, das alles habe es bereits in den Anfangszeiten des Webs gegeben und sind mit dieser Meinung nicht einmal in schlechter Gesellschaft: Auch Tim Berners-Lee vertritt sie. Und in der Tat scheint vieles für diese Auffassung zu sprechen. Enthielt nicht bereits der erste „Mosaic“-Browser auch einen „Editor“? Ließen sich mit ihm also nicht nur HTML-Seiten anzeigen, sondern auch herstellen? Sicher. Allerdings musste, wer den Editor wirklich benutzen wollte, damals auch über wenigstens grundlegende Kenntnisse der Internet-Technologie verfügen.
Das Potenzial war also vorhanden, es dauerte allerdings noch eine Weile bis zu seiner massenhaften Realisierung und Nutzung. Und genau das markiert auch die neue Qualität, also die „2“ im Namen des aktuellen Webs. Die griechischen Philosophen hätten ihre Freude an dem Zusammenhang gehabt! Auch das Web bleibt sich im Wesentlichen gleich, gerade indem es sich ständig erneuert.
Rückblende: Das Internet, ein Massenmedium „neuen Typs“
Bewegen wir uns also für einen Moment auf der Zeitachse, 13 und mehr Jahre, zurück zu den Ursprüngen des Web, so wie Tim Berners-Lee es konzipiert und am CERN vorgestellt hatte. Und wir entdecken nicht nur eine ebenso neue wie geniale Anwendung der IP-Technologie, sondern auch ein Massenmedium „neuen Typs“.
Schon damals zeigte das Internet nicht nur eine allgemeine Beschleunigung der Entwicklung und Vermarktung neuer Technologien an. Die eigentlich dramatische Veränderung, die die Entwicklung des Web, wie schon die des Internet insgesamt, prägte und von allen anderen vorher unterschied, ist die Strategie der Entwicklung auf der Grundlage offener und allgemein zugänglicher Standards. Nur so ist die weltweit vernetzte Zusammenarbeit ansonsten voneinander unabhängiger Wissenschaftler und Techniker denkbar.
Und die ist nicht nur in der Geschwindigkeit, sondern auch in der Qualität der Ergebnisse den Entwicklungsanstrengungen jedes einzelnen Wissenschaftlers, aber auch jedes einzelnen Unternehmens, dessen Mitarbeiterzahl per definitionem endlich ist, überlegen. Genau diese Entwicklungsstrategie auf der Basis offener Standards unterscheidet das Internet von anderen, traditionellen Massenmedien – und zwar sowohl quantitativ, also was die Geschwindigkeit seiner Verbreitung angeht, als auch qualitativ, was seine „Offenheit“, also die Fähigkeit neue Technologien und Anwendungen zu integrieren, anzeigt.
Und genau dieser Entwicklungsstrategie folgte Tim Berners-Lee, als er die offenen Standards der Internet-Technologie, die sogenannten Internet-Protokolle nutzte, um auf deren Grundlage seine eigenen, entscheidenden Beiträge zur Entwicklung des World Wide Web zu konzipieren. Mittels des „Hyper Text Transfer Protocols“ (HTTP) kann jeder Nutzer, neudeutsch „Client“, im Netzwerk eine Anfrage an einen (Web-)Server stellen, die der Server mit Hilfe des gleichen Protokolls durch die Auslieferung der gewünschten Daten beantwortet. Zur Darstellung der in (IP-)Paketen versandten Daten auf der Client-Seite nutzte Berners-Lee die Standards sogenannter „Auszeichnungssprachen“. Mit deren Hilfe entwickelte er seine vergleichsweise unkomplizierte „Hyper Text Markup Language“ (HTML), eine Sprache zur Darstellung der übermittelten Daten auf einer digitalen „Seite“ – eine Metapher, die an die vordigitale Art der Präsentation der Daten auf einer Dokumenten- oder Buchseite erinnert.
Damit hatte Berners-Lee nicht nur alle wesentlichen Elemente zur Übermittlung und Darstellung der Daten im Web entwickelt, durch die Nutzung „offener“ Standards war jederzeit gewährleistet, dass das System bei Bedarf auch weiter entwickelt werden konnte, so dass heute nicht nur Text- und Grafikdaten, sondern eben auch Sprach- oder Videodaten - und zwar in „Echtzeit“ (!) - im Web übermittelt und dargestellt werden können. Designer können sich nicht nur immer neue Gestaltungen für die Darstellung der Daten einfallen lassen, Techniker und Entwickler können ihnen auch immer neue Funktionen und „Logiken“ mit auf den Weg zum Nutzer geben. Das Web erweist sich damit als ebenso anpassungs- wie entwicklungsfähiges System und gerade darin allen anderen Massenmedien überlegen.
In diesem Zusammenhang zeigt sich aber auch, dass das Internet insgesamt sich durch zwei wesentliche Aspekte von allen vorhergehenden Medien grundsätzlich Multimedialität. Waren unterscheidet: durch seine Interaktivität und seine bei allen bisherigen Massenmedien „Sender“ und „Empfänger“ prinzipiell, also sowohl technisch wie auch wirtschaftlich, voneinander unterschieden, so gilt dieses Paradigma im Internet nicht mehr.
Die Fähigkeit, eine Zeitung lesen zu können reichte nicht aus, um sie auch verlegen zu können. Ein Radio kann ein Rundfunkprogramm zwar empfangen, nicht aber senden.
Im Internet kann dagegen grundsätzlich jeder Nutzer mit jedem anderen in Ver-bindung treten, also sowohl „Sender“ als auch „Empfänger“ sein. Die Technik für beide Funktionen ist die gleiche und auch die Kosten unterscheiden sich nicht wesentlich. Je reifer und entwickelter das Internet und seine Nutzer werden, man denke etwa an die „Peer-To-Peer-Netze“ oder die „Social Networks“ des Web 2.0, desto mehr realisiert sich dieses Potenzial.
„Interaktion“ im Sinne der direkten Kommunikation zwischen den Nutzern gab es auch schon vorher, nämlich in der Telefonie. Allerdings war sie auf ein Medium, den Austausch von sprachlichen Mitteilungen beschränkt. Die Datenpakete des digitalen Internets können hingegen alles Mögliche enthalten: Sprache, Bilder oder auch schriftliche Dokumente. Es handelt sich also um ein multimediales Netzwerk. Beides zusammen, seine Interaktivität und seine Multimedialität, unterscheiden das Internet grundsätzlich von allen anderen „linearen“ Massenmedien, machen es also zu einem Massenmedium neuen Typs.
Ein neues Kommunikationsparadigma
Dieses grundlegend neue Kommunikationsparadigma, hervorgebracht durch die Digitalisierung im Allgemeinen und die Internet-Technologie, TCP/IP, im Besonderen, untersuchte Nicholas Negroponte bereits 1995 in seinem bis heute faszinierenden Buch „Total Digital“ [8]. Die Konsequenzen für jede Form „kommerzieller Kommunikation“ reflektierend, sagte dieser Visionär des anbrechenden Internet-Zeitalters: „In Zukunft wird nicht mehr die Werbung um Reaktionen buhlen, sondern sie wird auf die Anforderungen jedes einzelnen potentiellen Kunden reagieren müssen.“ [9]
Was ein Paukenschlag – zumindest in den Ohren der Werber und Marketer – hätte werden können und sollen, verklang allerdings in der Euphorie des anbrechenden ersten Internet-Booms so gut wie unbeachtet. Zu sehr waren die „Interaktiven“, so der wohlklingende Name der neuen Werbedisziplin, noch damit beschäftigt, ihre eigene Existenz gegenüber den „klassischen“ Kollegen zu rechtfertigen und erste Werbekunden ins noch weitgehend unbekannte und nur wenig bevölkerte Web zu begleiten, um auch noch die neuen, gründlich veränderten Rahmenbedingungen des eigenen Tuns reflektieren zu können.
Vielleicht fehlte ihnen aber auch einfach genügend Kreativität und Phantasie, um sich von den alten, durch die konventionellen Massenmedien geprägten Vorstellungen und Techniken lösen zu können. Und so glichen nicht nur die ersten, sondern bis heute die meisten Werbemittel im Web eher herkömmlichen Print-Anzeigen -und später TV-Spots. Wenn nicht in Größe und Gestaltung, wofür dann ausgerechnet „mangelnde Bandbreite“ verantwortlich gemacht wurde(!), dann doch in Tonalität und Wirkung. Keine Spur von Interaktivität - bis auf den erhofften „Ad-Click“- oder gar Personalisierung. Kein einziger Versuch, auf die Interessen und Anforderungen der Nutzer oder gar den gründlich veränderten medialen Zusammenhang der werblichen Kommunikationsbemühungen einzugehen. Stattdessen nur ebenso hilflos wie aggressiv wirkende „Banner“, die immer nur „Klick mich!“ zu schreien schienen.
Und das ist nicht einmal verwunderlich. Brauchen Menschen im Allgemeinen und „Kreative“ im Besonderen doch immer eine gehörige Weile, bis sie entdecken, dass neue Technologien auch ebenso neue Gestaltungsformen erlauben, ja verlangen. Auch die ersten Autos sahen zu Beginn des letzten Jahrhunderts nicht anders aus als Pferdekutschen – nur eben ohne Pferde. Und genauso verhielt es sich mit der Werbung im Web: Sie kam daher wie eine Zeitungsanzeige – nur ohne Papier. Und daran hat sich bis heute bei den meisten Werbemitteln auf den meisten Websites nur wenig geändert. Bei den Autos dauerte es bekanntlich fast dreißig Jahre, bis sie eine eigene Formensprache gefunden hatten. Im Web könnte es, so bleibt wenigstens zu hoffen, deutlich schneller gehen.
Doch zurück auf die „Timeline“. Denn die Defizite der Werber lenken die Aufmerksamkeit nun auf einen weiteren, in der Reflektion wie in der Praxis bislang weitgehend vernachlässigten Aspekt des neuen Kommunikationsparadigmas im Internet: die „Personalisierung“.
Personalisierung und Interaktivität
Stellte schon die Interaktivität des „Massenmediums neuen Typs“ die damit konfrontierten Werber anfangs vor substanzielle Probleme, so berührte die Personalisierung der Kommunikation sogar die Grundfesten des herkömmlichen Verständnisses von Werbung. Ging es doch bislang immer darum, einer jeden „werblichen Aussage“, also den bekannten „messages“, durch die richtige Platzierung in den richtigen Medien, eine möglichst große „Reichweite“ in der Zielgruppe und damit eine ebensolche „Aufmerksamkeit“ zu verschaffen.
In dem Bemühen, diese einmal erlernte und offensichtlich bewährte Arbeitsweise des Marketings auf das neue Medium Web zu übertragen, versuchte man auch, die gern als „Währung“ bezeichneten Kennzahlen für diese Parameter des Kommunikationserfolgs zu etablieren: Zuerst zählte man „Hits“, also Anfragen, die vom Server mit der Auslieferung eines Datensatzes beantwortet wurden. Als die zahlenden Werbekunden begriffen, dass eine HTML-Seite aus mehreren Datensätzen bestehen kann, fasste man diese als „Page Impressions“, zu deutsch „Seitenansichten“, zusammen. Da es aber eigentlich um die Zielgruppe geht, fasste man schließlich die offensichtlich in einem Zusammenhang stehenden Seitenaufrufe zu einer „Session“ zusammen, hinter der dann offenbar ein zu zählender „Unique Visitor“ stehen sollte.
So verfeinerte man Jahr für Jahr zwar Methoden und Ergebnisse der Zählung, löste damit aber nicht das grundsätzliche Problem. Die Nutzer hatten, im Gegensatz zu den Werbern, inzwischen begriffen wie das Internet eigentlich gemeint war und funktionierte. Sie hatten verstanden, dass sie in diesem Massenmedium neuen Typs sowohl Sender als auch Empfänger waren und so mit jedem anderen in Austausch treten konnten.
Jede nicht zu diesem interaktiven Kommunikationszusammenhang passende und gehörende Information wird als Störung oder gar Unterbrechung des Austauschs empfunden und entsprechend behandelt. Sie wird schlicht ausgeblendet (!) - und zwar, von versierten Nutzern, technisch und von allen anderen wenigstens mental. „Click Through“ Raten, bei Bannern und ähnlich konventionellen Online-Werbemitteln inzwischen nur noch im Promille-Bereich messbar, sind ein eindeutiger Beleg dafür. „Personalisierung“, also die Ausrichtung des eigenen Kommunikationsangebots an den aktuellen Interessen der Nutzer, wäre eine Lösung - wenn nicht ein Missverständnis Werber und ihre Kunden ausgerechnet diese Personalisierung hätte fürchten lassen wie den Teufel das Weihwasser. Personalisierung im kommerziellen Kommunikationszusammenhang bedeutet doch eben nicht die (Selbst-)Beschränkung auf den individuellen „1:1“ Dialog, was den Zielen „Reichweite“ und „Aufmerksamkeit“ in der Tat diametral entgegen stehen würde, sondern schlicht die Einbeziehung der Person(a), also der allgemeinen Interessen und des aktuellen Nutzungsprofils des Kommunikationspartners.
Die Kenntnis eines solchen Profils, seines historisch gewachsenen Hintergrundes wie seiner aktuellen Ausprägung, wäre ausreichend, um dazu passende Angebote, durchaus auch kommerziellen und werblichen Charakters, machen zu können. Doch woher sollte der arme Werber wissen, was den Nutzer gerade bewegt und interessiert? Man könnte ihn einfach fragen! Zumal in einem interaktiven Medium. Wie etwa in einer Online-Community. Aber auf einem reichweitenstarken „Portal“, der „natürlichen“ Umgebung für Online-Werbung, mit anfangs tausenden, später auch Millionen von unbekannten Nutzern? Das war noch vor zehn Jahren unvorstellbar. Der „Segen“ des Internets, der unmittelbare Zusammenhang von persönlicher und empfundener Nähe und realer Anonymität der Kommunikationspartner, wird hier scheinbar zum Fluch für das Online-Marketing. Und bis zur Lösung dieses Problems sollte es noch einige Jahre dauern.
Online-Marketing und die „Dotcom“-Blase
Da sich keine Lösung abzeichnete, während gleichzeitig der wirtschaftliche Erfolgsdruck auf die „Interaktiven“ zunahm, versuchten (Internet-)Agenturen und Online-Marketing-Strategen das Problem zu leugnen oder zumindest gegenüber den Werbekunden „unter dem Deckel“ zu halten. Man schürte sogar weiter irrationale Hoffnungen angesichts des boomenden und immer weiter gehypten Webs, machte für die inzwischen nachgewiesene Erfolglosigkeit des hilflosen Vorgehens Gott und die Welt verantwortlich – nur nicht das eigene Unverständnis des neuen Mediums.
Euphorie und Depression angesichts desaströser Erfolgsbilanzen bescherten Interaktiven und Kunden, Märkten und Analysten ein Wechselbad der Gefühle, aber keine neuen, gar verwertbaren Erkenntnisse. Im Gegenteil wurde auch der Hype um eine angeblich entstehende „New Economy“ weiter geschürt, in der bekannte und etablierte wirtschaftliche Methoden und Ziele nicht mehr gelten sollten. Messbare Erfolge, gar Gewinn seien nur etwas für Angsthasen, war damals ein gern zitierter Spruch auf den Foren und Kongressen der Ahnungslosen zwischen Silicon Valley und München.
Kein Wunder, dass diese „Blase“ irgendwann platzen musste, dass es blitzartig vom Gipfel des Hypes ins Loch der Depressionen ging - mit den bekannten Folgen für die Internet-Wirtschaft im Allgemeinen und das Online-Marketing im Besonderen. Doch bekanntlich ist die Nacht immer dann am dunkelsten, wenn der erste Sonnenstrahl des neuen Tages am nächsten ist.
Und der erschien in der grauen und verstörten Web-Welt in Gestalt eines bunten Logos und der jungenhaften Gesichter zweier Studenten der kalifornischen Stanford University. Sein Name klang so fremd und exotisch wie der eines fremden Sterns: Google.
Warum die Suche im Internet erst durch Google richtig schön wurde
Zwar hatten auch die Google-Gründer Serge Brin und Larry Page 1998 noch keine Lösung für die existenziellen Probleme des Online-Marketings bei der Hand, ja nicht einmal ein nennenswertes Geschäftsmodell für ihr gerade gegründetes Unternehmen vorzuweisen. Dafür aber hatten sie eine geniale Idee realisiert: Eine Suchmaschine, die die Relevanz und Bedeutung der Suchergebnisse in Abhängigkeit vom Grad ihrer Verlinkung, also der Qualität ihrer Vernetzung, interpretierte und darstellte. Sie hatten den „Page Rank“ erfunden!
Das klingt heute ebenso einfach wie logisch, war aber mehr und besser als alles, was die bekannten Suchmaschinen im Web, von „Altavista“ bis „Hotbot“ damals zu bieten hatten. Doch die „New Economy“ und die Online-Werber hatten zu der Zeit wahrlich andere Sorgen und andere Hoffnungen als ausgerechnet eine neue Suchmaschine und deren genialen Algorithmus. Das war ein Thema für „Geeks“, die zwar notwendigen, aber ebenso wenig geliebten wie verstandenen Technik-Freaks der Internetszene.
Die Internetnutzer sahen das allerdings anders. Sie verstanden und liebten Google. Vielleicht nicht die Technik, sicher aber deren Ergebnisse. Deshalb nutzten sie die Suchmaschine entsprechend und machten sie in kürzester Zeit zu einer der beliebtesten „Destinationen“ im Web. „Googeln“ wurde bald zum Synonym für die Suche im Internet.
Mit dem Erfolg stiegen allerdings auch die Kosten für die Unternehmung. Nur ein Geschäftsmodell für das Erfolgsmodell war immer noch nicht in Sicht. Bis Eric Schmidt, ein Silicon-Valley-Veteran und erfahrener IT-Manager den „Googleplex“ betrat und den erstaunten Gründern erklärte, dass sie auf einer Goldgrube säßen. Eric Schmidt war der erste, der den wahren, geschäftlichen Wert der Page-Rank-Technologie erkannt hatte.
Wenn eine Suchmaschine in der Lage ist, den Nutzern immer genau die Ergebnisse anzuzeigen, die ihnen am wichtigsten sind, dann „weiß“ die Suchmaschine auch, was die Nutzer in diesem Moment am meisten interessiert, was sie also wirklich suchen und wissen wollen. Was liegt also näher, als den Nutzern, neben den eigentlich relevanten Ergebnissen ihrer Suche auch kommerzielle Angebote anzuzeigen, die diesem Interesse ebenso genau entsprechen? Und die Nutzer, so Schmidts Erwartung, würden sich durch die kommerziellen Angebote, die in einem direkten Zusammenhang mit dem eingegebenen Suchbegriff und den angezeigten Ergebnissen stehen, nicht einmal gestört, sondern eher in ihren Interessen unterstützt fühlen. Eine echte „Win-Win-Situation“ für alle Beteiligten. Wer gerade ein Hotel in Paris sucht oder auch eine Backup-Strategie für den heimischen PC, fühlt sich tatsächlich durch entsprechende kommerzielle Angebote nicht gestört, sondern verstanden und unterstützt. Und derjenige, der mit diesem Verfahren sicher weiß, dass sein kommerzielles Angebot nicht als „disruptive“, störende Werbung, sondern als zusätzliche und willkommene Information angesehen wird, ist natürlich auch gern bereit, dafür gutes Geld zu zahlen – schließlich hat kein anderes Medium ein besseres „Umfeld“ für die kommerzielle Kommunikation zu bieten.
Was lag also näher, als die Preise für die begehrte Positionierung des Werbemittels in unmittelbarem Zusammenhang mit besonders populären Suchbegriffen nicht durch eine statische Preisliste, sondern durch dynamische Auktionen definieren zu lassen? Und bezahlt, so das „I-Tüpfelchen“ auf Schmidts bahnbrechendem Geschäftsmodell, wird nicht mehr irgendeine diffuse „Aufmerksamkeit“, sondern nur noch die erwünschte Nutzerreaktion: sein Klick auf die Anzeige. „Cost Per Click“ (CPC) machte das neue „Suchmaschinenmarketing“ nicht nur preiswert, sondern etablierte endlich eine so lange gesuchte und sehnlich erwünschte „harte Währung“ für die Online-Werbung.
Durch die Beschränkung auf Textanzeigen, um den Nutzer nur ja nicht zu stören, sondern ihm das Gefühl der Unterstützung und Begleitung seiner Interessen zu vermitteln, konnte man neben den Online-Media- auch gleich die Online-Marketing-Agenturen aus der Wertschöpfung entfernen; und damit en passant noch die freien Budgets der Kunden für die Ad-Word-Auktionen erhöhen. „Direct Economy“ im modernen Web-Gewand!
Der Rest ist Online-Marketing-Geschichte: Google wurde mit dieser Strategie nicht nur die mit weitem Abstand populärste Suchmaschine mit einem Marktanteil von mehr als 50 Prozent im Web, sondern auch zum Treiber des Erfolgs der Online-Werbung. Über 10 Milliarden US-Dollar setzte Google im Geschäftsjahr 2006 damit um – über 40 Prozent des gesamten Volumens der Online-Werbung [10].
Damit verschaffte sich Google das notwendige Kapital, um nicht nur die Suche und das Sucherlebnis im Web zusammen mit entsprechenden Werbeformen zu optimieren, sondern auch um weit darüber hinaus zukünftig für das Geschäftsmodell relevante Bereiche zu entwickeln oder einzukaufen. Der Kauf der innovativen Video-Plattform YouTube und des Online-Marketing-Dienstleisters DoubleClick sind für den Erfolg dieser Strategie ebenso gute Beispiele, wie der Angriff auf das Geschäftsmodell der etablierten Software-Industrie durch immer neue, kostenlose Applikationen. All das ist nicht nur gut für die Nutzer, denen Online-sich damit neue und „wohlfeile“ Möglichkeiten eröffnen, sondern verschafft Google gleichzeitig auch immer neue Plattformen, Umgebungen und Möglichkeiten für den Verkauf weiterer Online-Werbemittel.
Nun wäre es entweder naiv oder unzulässig vereinfachend, wollte man den späten Erfolg des Online-Marketings allein Google und Eric Schmidt gutschreiben. Wie immer hat der Erfolg viele Väter. Einer davon blieb in den Zeiten der Depressionen nach der geplatzten New-Economy-Blase lange unbeachtet – auch weil die mit ihm einhergehende, neue Qualität der Internetnutzung lange unter der Schwelle medialer und analytischer Wahrnehmung blieb. Denn als „Märkte“ und „Medien“ gerade überhaupt nichts mehr vom Internet wissen wollten, entschieden sich immer mehr Nutzer still und heimlich für eine neue, preiswertere und komfortablere, also einfach bessere Art des Zugangs zum Internet.
Die heimliche Revolution: Breitband-Internet-Zugang
Der sogenannte „Breitband-Zugang“, in Deutschland meist als „Digital Subscriber Line“, DSL, über das Telefonnetz, in den USA häufig auch über das TV-Kabel-Netz und in Asien teilweise schon über Glasfaser realisiert, brachte den Nutzern, ob im privaten Umfeld oder auch in kleinen Unternehmen, zahlreiche und deutliche Vorteile. Nicht nur die Geschwindigkeit des Datentransports, auch die Qualität und der Komfort der Vernetzung nahmen merklich zu.
Keine nervenaufreibende Modem-Konfiguration und keine plötzlichen Verbindungs-abbrüche mehr. Auch datenintensive Angebote, wie Musik und Video oder 3D-Welten aus dem Internet waren durch Breitband erstmals auch für private Nutzer zugänglich und erhöhten die Attraktivität des Mediums genauso wie die Möglichkeiten des Nutzers. Und das Beste: Mit einem Breitband-Zugang war der Nutzer immer online mit dem Internet verbunden. Die darauf basierenden Flatrate-Angebote der Provider machten die Nutzung des deutlich attraktiver gewordenen Mediums auch noch preiswerter.
Damit wurde das Internet nicht nur zur Plattform für alle möglichen Interessen und Arten der Nutzung. Es wird auch intensiver, häufiger und länger genutzt: immer mehr Alltagsaktivitäten, von der privaten Kommunikation über Unterhaltung und Information bis zum Einkauf werden zunehmend im Internet realisiert. So stieg in den letzten Jahren die Dauer der täglichen Internet-Nutzung auf 80 Minuten pro Tag und der Anteil der Internet-Nutzung an der gesamten privaten Mediennutzung auf 14,6 Prozent [11].
Und wie so oft braucht die Werbeindustrie am längsten, um diesen seit Jahren anhaltenden Trend zu realisieren. So liegt der Anteil des Online-Marketings am gesamten Werbemarkt in Deutschland immer noch bei lediglich 8,9 Prozent. Dieses „Delta“ zwischen Nutzung und Werbebelegung wird sich schließen – und damit in absehbarer Zeit für ein weiter überproportionales Wachstum der Online-Werbung sorgen.
Da das Zeitbudget für die Mediennutzung aber nicht ohne Weiteres zu steigern ist, bedeutet die Zunahme der Internet-Nutzung tendenziell eine zu erwartende Abnahme der Nutzung anderer Medien. Was für Zeitungen und Radio heute schon sichtbar ist, wird über kurz oder lang auch das Fernsehen ereilen. Zumal wenn das „Internet-Fernsehen“, IP-TV, und innovative Video-On-Demand-Dienste ähnliche, wie auch ganz neue, etwa von den Nutzern selbst hergestellte Inhalte deutlich attraktiver, zum Beispiel ohne Unterbrecher-Werbung, zur Verfügung stellen können.
Wir erleben also einen Trend zur Konvergenz. Das bedeutet nun keineswegs, dass die „neuen“ alle traditionellen Massenmedien verdrängen oder gar ersetzen werden. Das hat es in der Geschichte der Medien nie gegeben und steht auch heute nicht zu erwarten.
Konvergenz der Technologien und Differenzierung der Nutzung
Was wir heute als „Konvergenz der Medien“ bezeichnen, ist eigentlich eine technische Konvergenz der digitalen Netzwerke, die diese Medien transportieren – genauer gesagt die Globalisierung der Internet-Architektur. Die durch dieses globale Netz vermittelten Inhalte dagegen unterliegen, wie alle anderen Angebote darin, den Regeln der Interaktivität und Personalisierung, das heißt sie entfernen und differenzieren sich zunehmend voneinander.
Konvergenz begründet sich heute weniger aus technischen, sondern primär aus wirtschaftlichen Zusammenhängen. So besteht zwar die Bedingung der Möglichkeit einer Konvergenz in der Digitalisierung der Inhalte – in einem Netzwerk und den daran angeschlossenen Endgeräten können alle möglichen digitalen Inhalte und Funktionalitäten zur Verfügung gestellt werden, hinreichend für die praktische Realisierung ist aber erst ein darin enthaltener wirtschaftlicher Vorteil. So wird diese Möglichkeit heute deswegen so verbreitet genutzt, weil nicht nur Transport und Verteilung, sondern auch die Inhalte selbst in diesem Netzwerk preiswerter sind als in allen herkömmlichen Medien.
Insofern kann die technische Konvergenz gleichzeitig auch eine inhaltliche Differenzierung der digitalen Medien bedeuten. Genau das erleben wir heute tagtäglich: Eine bislang ungeahnte Vielfalt digitaler Inhalte wird massenhaft im Internet angeboten und zwischen den Nutzern ausgetauscht, ob es der Medien- und der Unterhaltungsindustrie gefällt oder nicht.
Von Blogs und Wikis, Foto- und Video-Plattformen
Diese Differenzierung der Nutzung digitaler Medien und des Internets wird im Web 2.0 auf die Spitze getrieben: In den Blogs und Wikis, den webbasierten Tagebüchern, Linksammlungen und Kollaborationsplattformen, den Foto- und Video-Plattformen, kurz in all den neuen „Sozialen Netzwerken“ des Web 2.0 tritt der Nutzer auch als Produzent und Distributor der digitalen Inhalte auf. Dabei nutzt er keineswegs nur „eigene“, von ihm selbst hergestellte Inhalte, sondern reichert diese mit anderen an, kombiniert sie zu „Remixes“ und „Mash-Ups“. Er hat dabei alles, nur kein Geschäftsmodell oder die Wertschöpfung im Sinn.
Dabei steht er objektiv im Wettbewerb mit der einstmals mächtigen Medien- und Unterhaltungsindustrie: YouTube ist längst zur höchst realen Konkurrenz von RTL und ARD geworden, Blogs nehmen Zeitungen und Zeitschriften Leser ab und Wikis sind als Mittel der Wissensvermittlung auch in einigen Unternehmen heute bereits unverzichtbar.
Nur Geld verdienen lässt sich damit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht. Da diese Entwicklung aber nicht von einem Geschäftsmodell getrieben wird, sondern von den ganz unterschiedlichen, persönlichen Interessen der Nutzer und digitalen (Ko-)Produzenten, spielt das zunächst keine wesentliche Rolle für den Erfolg all dieser Unternehmungen. Zumal die digitalen Produktionsmittel, genau wie der Internet-Zugang, unterdessen immer preiswerter werden, wenn sie nicht, wie Open-Source-Software, ganz kostenlos zur allgemeinen Verfügung stehen.
Das Internet ist im Laufe der letzten Jahre also sowohl zu einer wesentlichen Schlagader der globalen Wirtschaft geworden, durch die bereits 10 Prozent des gesamten Welthandels fließen. Gleichzeitig wurde es zum Totengräber etablierter Geschäftsmodelle und – wie es den Anschein hat – ganzer Industrien. Andererseits etablierten sich im Internet, in Form der „Social Networks“, virtuelle Wissensnetze, in denen es, wie wir gesehen haben, nicht um die Menge und schon gar nicht die Verwertung des dort versammelten Wissens, sondern um die gemeinschaftliche Methode des Wissenerwerbs geht [6].
Ausgestattet mit diesem Wissen und immer neuen, frei verfügbaren Produktionsmitteln, entwickelte sich in den letzten Jahren im Internet also auch ein neuartiges „Medien-Handwerk“ – eine neue „cottage-industry“ digitaler Heimwerker. Es entzieht sich weitgehend der Verwertung und hat bisher noch kein eigenes Geschäftsmodell gefunden, während es die Geschäfte der etablierten Medien- und Unterhaltungsindustrie zunehmend herausfordert und gefährdet.
Die neue Macht im Netz: Nutzer und (dann erst) Kunde
Die Monopolisierung der vertikalen Wertschöpfungskette vom Hersteller bis zum Endkunden, also das wirtschaftliche Ziel jeder traditionellen Medienstrategie, funktioniert in der digitalen Wirtschaft des Internet-Zeitalters und erst recht im Web 2.0 also nicht mehr, einfach weil sich die Wertschöpfung in einem Netzwerk anders vollzieht, nämlich durch die in ständig wechselnden Rollen und Funktionen an der Wertschöpfung beteiligten Partner. Insofern handelt es sich bei der vernetzten Wertschöpfung auch weniger um die bekannte „Wertschöpfungs-Kette“ als um ein neuartiges „Wertschöpfungs-Netz“, in dem alle Beteiligten vom Produzenten bis zum Endkunden in immer wieder neuen Konstellationen miteinander interagieren.
„Vernetzung“ wird im Laufe dieser Entwicklung immer mehr zu einer Selbst-verständlichkeit und ebenso genutzt – und damit schließlich zu einem „Lifestyle-Phänomen“. Während die Wirtschaft sich einem Lifestyle – wenn überhaupt - nur im Sinne seiner Verwertung widmen kann, wird er vom Nutzer als „Zeitgenosse“ nicht nur konsumiert, sondern (er-)lebt und bewusst oder unbewusst vorangetrieben. Damit wird dieser Nutzer zum Zentrum und zur treibenden Kraft des Trends. Hersteller und Händler haben nur zu den von ihnen selbst produzierten und verkauften Komponenten der Vernetzung einen unmittelbaren Zugang und sind ansonsten auf Zulieferung und Kooperation mit anderen angewiesen, um an der Wertschöpfung teilnehmen zu können.
Der Nutzer-Kunde hingegen verfügt in seiner Nutzerrolle als Einziger über eine direkte Beziehung zu allen an der Wertschöpfung beteiligten Komponenten und Technologien. Nicht nur indem er sie erwirbt, sondern vor allem und insbesondere indem er sie nutzt, um mit anderen in Austausch zu treten und zu kommunizieren. Dieser informierte und emanzipierte Nutzer-Kunde wird damit nicht nur zum wesentlichen Faktor innerhalb eines weltweit vernetzten Systems, er wird selbst vom Objekt der Wertschöpfung zum handelnden und entscheidenden Subjekt der Vernetzung.
Von „Digital Natives“ und „digitalen Immigranten“
Unschwer ist zu erkennen, dass wir uns mitten in einer für Beobachter wie Akteure verwirrenden Entwicklung, in einer Zeit des fundamentalen Umbruchs etablierter Geschäfts- und Kommunikationsmodelle befinden, die sich zusammenfassend durch drei wesentliche Aspekte charakterisieren lässt:
• Konzentration und Konsolidierung der Online-Marketing-Industrie
• Partikularisierung der Online-Medien und Personalisierung ihrer Nutzung
• Marken werden im Dialog mit dem Nutzer-Kunden zum Subjekt und Objekt einer weltweiten Konversation und kehren damit aus der Kontrolle der Marketer gewissermaßen wieder zu ihrem Ursprung zurück.
Die sogenannten Internet-Spezialisten haben sich darauf geeinigt, zur Beschreibung dieser Situation nun den schillernden Begriff Web 2.0 zu verwenden – zumindest bis sie einen besseren gefunden haben. Wie die digitale Wirtschaft jenseits des aktuellen „Runs“ davon profitieren kann, ist noch nicht absehbar. Das gilt erst recht für das Online-Marketing beziehungsweise die weit darüber hinausgehende kommerzielle Kommunikation im Internet.
Nicholas Negroponte hat der Branche einen entscheidenden Impuls für die Richtung der Ideenfindung mitgegeben. Mit weniger wird sie sich nicht zufrieden geben. Nur das Ergebnis seines Ansatzes, eine praktische Methode der interaktiven und personalisierten kommerziellen Kommunikation, blieb er uns schuldig. Wenn es aber für die kommerzielle Kommunikation in Zukunft wesentlich darum geht, auf die Anforderungen jedes einzelnen potentiellen Kunden adäquat zu reagieren, müssen neue Formen des Austausches, Foren für das Gespräch zwischen Marken und Kunden gefunden und etabliert werden. Die Unternehmen im Allgemeinen und das Marketing im Besonderen müssen also ihre „Elfenbeintürme“ verlassen und sich hinaus auf die (virtuelle) Straße begeben, um dort, wie es das „Cluetrain Manifesto“ schon vor Jahren richtig forderte, auf „Augenhöhe“ mit dem jeweiligen Kommunikationspartner und mit „menschlicher Sprache“ in einen andauernden und nachhaltigen Dialog zu treten [12].
„Märkte sind Konversationen.“ Richtig. Nur heute, mit allen Möglichkeiten und Techniken des Web 2.0 ausgestattet, sind die Gesprächsteilnehmer gebildeter und besser informiert denn je - sicher besser informiert als die beste Marketingabteilung. Und jede Information, aber auch jedes Gerücht verbreitet sich in den sozialen Netzen des Webs in Echtzeit. Das müssen Marketer heute wissen. Einmal, um solche Effekte selbst nutzen zu können – „Word Of Mouth“ oder „Mundpropaganda“ nennt man heute (wieder) diese Disziplin. Aber sie müssen es auch wissen, um überhaupt als Gesprächspartner akzeptiert zu werden, erst recht, um den Gesprächen eigene Ideen und Impulse beisteuern, ihnen auch mal eine neue Richtung geben zu können.
Märkte sind Gespräche. Und „Word of Mouth“, also das Gespräch und die Empfehlung zwischen Freunden und vertrauten Bekannten, ist sicher eine der ältesten Marketing-Techniken der Menschheit, so alt wie Lagerfeuer, Kneipen und Fußballplätze. Älter als alle „modernen“ Massenmedien jedenfalls - und offenbar wirkungsvoller. Insbesondere wenn sie, ausgestattet mit allen Effekten und technischen Vorteilen intensiver und globaler Vernetzung, in virtuellen Umgebungen stattfinden, in einer Sprache, die der kommerziellen Kommunikation fremd ist. Doch müssen all diejenigen, die kommerzielle Kommunikation heute unter den Bedingungen von Web 2.0 betreiben wollen, sie erlernen.
Denn gerade diese informellen, oft schnörkellos und zuweilen ruppig geführten Gespräche sind ein wesentlicher Ausdruck jenes digitalen „Lifestyles“, der – wie das ganze Web 2.0 – wesentlich durch eine bestimmte Haltung geprägt ist. Es handelt sich um den Lifestyle der von Mark Pensky schon 2001 so genannten „Digital Natives“. Er bezeichnete damit die junge Generation, die in einer digitalen Welt geboren und groß geworden ist, für die der Umgang mit dem Internet und dem Handy, mit digitalen Medien und deren Remixes, so selbstverständlich ist wie das tägliche Brot. Für alle anderen, heute älter als 25 Jahre, ist diese Welt immer in gewisser Weise fremd geblieben. Sie sind sozusagen „digitale Immigranten“. Wie jeder andere Einwanderer auch, müssen sie die Regeln und Werte, Sprache und Geschäftmodelle der neuen Heimat erst erlernen, um sie dann, mehr oder weniger mühsam, auch anwenden zu können. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der das Online-Marketing heute steht - sicher die größte in seiner jungen Geschichte. Ein langer und beschwerlicher Weg liegt vor uns. Aber auch ein lohnendes Ziel – nicht nur für Marketer. Denn an seinem Ende könnte eine Erkenntnis warten, die die Google-Gründer bereits hinter sich haben dürften: Am Anfang einer Erfolgs-Story steht nur selten ein Geschäftsmodell – aber immer eine geniale Idee.
Literatur
[1] http://www.w3.org/History/1989/proposal.html © World Wide Web Consortium, Massachusetts Institute of Technology, Institut National de Recherche en Informatique et en Automatique, Keio University. All Rights Reserved. http://www.w3.org/Consortium/Legal/
[2] http://www.isoc.org/internet/history/brief.shtml
[3] http://www.ftd.de/technik/medien_internet/:WPP Microsoft RennenWerber/202246.html
[4] Technorati Gründer David Siffry veröffentlicht jedes Quartal ein Update zum „State of the Blogosphere“ in: http://www.sifry.com/alerts/archives/000493.html, YouTube: vgl.: http://www.marketwatch.com/news/story/Story.aspx?guid=%7B5321F557-E82D-4D70-826B-D5B27C02E5B7%7D&siteid=
[5] http://www.oreillynet.com/pub/a/oreilly/tim/news/2005/09/30/what-is-web-20.html
[6] Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle Understanding Media: Düsseldorf (Econ), 1992; ©1964 by Marshall McLuhan. - S. 344, ISBN: 978-3436010805.
[7] Henry Jenkins: Convergence Culture. - S. 54, ISBN: 0814742815, New York University Press, 2006.
[8] Nicholas Negroponte: Total Digital. - 256 S., ISBN: 0679439196, Knopf, 1995.
[9] „Instead of advertisers soliciting response, they’ll have to respond to the solicitations of potential customers.“ Zitat nach Schrage, M. (1994): „Is Advertising Dead?“ in: Wired 2.02, Übersetzung Ossi Urchs, February 1994.
[10] http://www.ftd.de/technik/it_telekommunikation/49754.html?p=2, Seither (2005) sind die Marktanteile von Google sowohl bei der Suche wie auch bei der Suchmaschinenwerbung weiter gestiegen.
[11] „Timebudget 12“ - Studie der FORSA im Auftrag von SevenOne Media, Unterföhring 2005, S. 14 und Seite 19: Internetnutzung allgemein 59 Minuten/Tag, DSL-Nutzer 116 Minuten/Tag; zum „Delta“ zwischen Internetnutzung und Volumen des Online-Werbemarktes vgl.: Internet World Business 6/07, S. 21, 19.03.07.
[12]Rick Levine et al.: The Cluetrain Manifesto - The End of Business as Usual; p. XIV, Thesis 25ff, ISBN: 0738202444, Perseus Books, 2000; Online unter: http://www.cluetrain.com/