Studie: Barrierefreiheit unzureichend realisiert
Mittelständische Betriebe schöpfen das wirtschaftliche Potenzial barrierefreier Technologien bei der Programmierung ihrer Internetseiten nur unzureichend aus. Die Mehrzahl der Unternehmen gestaltet ihre Online-Angebote so, dass die Nutzung für blinde, sehbehinderte und ältere Menschen sowie für User, die unterwegs mit ihrem Smartphone, Personal Digital Assistant oder Notebook im Web surfen, erheblich erschwert oder sogar gänzlich verhindert wird. Bilder und Grafiken ohne erläuternde Alternativtexte, verwirrende Seitenstrukturen und Navigationshilfen und unleserlich kleine und kontrastarme Schriften das sind die häufigsten Barrieren, unter denen Menschen mit Handicap leiden. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die die Heilbronner Multimedia-Agentur INDECA im Mittelstand durchgeführt hat.
Untersucht wurden die Webauftritte von 116 mittelständischen Betrieben. Als Basis der Studie dienten die international etablierte Zugänglichkeitsrichtlinie für Web-Inhalte der Web Accessibility Initiative (WAI) und die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV). Insgesamt erhalten drei Viertel (75 Prozent) der untersuchten Internetseiten die Note „schlecht zugänglich“. Gerade einmal eine von zwanzig untersuchten Webseiten ist „gut“ (3 Prozent) oder „sehr gut“ (1 Prozent) nutzbar. Ein verheerendes Zeugnis stellt die Studie den Web-Designern aus: Bei neun von zehn Online-Angeboten (91 Prozent) werden die Programmiersprachen nicht normgerecht ausgeführt.
Bis spätestens Ende 2005 müssen die Bundesbehörden ihre Webseiten von technischen Barrieren befreien so schreibt es jedenfalls die „Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz“, kurz: „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“ (BITV), vor, die seit dem 17. Juli 2002 gilt. Das Ziel: Auch behinderte oder ältere Menschen sollen die Online-Angebote ungehindert und in vollem Umfang nutzen können. Betreiber kommerzieller Webseiten werden zwar auf¬gefordert, dem Vorbild des Bundes zu folgen, eine gesetzliche Verpflichtung besteht in Deutschland indessen bislang nicht.
Dennoch lohnt es sich auch für mittelständische Betriebe, über eine Umstellung nachzudenken, und zwar aus handfesten wirtschaftlichen Überlegungen. Besonders zahlt sich dieser Schritt für Firmen aus, die im Netz auf Kundenfang gehen. Der Grund liegt auf der Hand: Gerade behinderte Menschen bilden eine besonders Internet-affine, stark wachsende und zudem durchaus kaufkräftige Kundenzielgruppe. Wer seine Webseite von Barrieren befreit, kann bei dieser Zielgruppe punkten und damit letztlich sein Geschäft kräftig ankurbeln. Die Umstellung lohnt sich aber noch aus einem weiteren Grund: die Benutzerfreundlichkeit der Internetseite erhöht sich insgesamt. Dies zeigt sich in einem verbesserten Seitenaufbau und geringeren Ladezeiten. Bei kommerziellen Online-Angeboten schlägt sich dies in einem Rückgang der abgebrochenen Bestellvorgänge und einer stärkeren Kundenbindung nieder.
Selbst für Unternehmen, die das Internet nicht primär als Vertriebskanal nutzen, zahlt sich eine Umstellung aus. Denn die Nutzung barrierefreier Technologien verschafft der Webseite ein besseres Ranking bei den Internetsuchmaschinen. Nicht zu vergessen ist der Imagegewinn, den ein Betrieb, der sich bei der Ausgestaltung des Online-Angebots auf die Anforderungen von Menschen mit Handicap einstellt, erzielen kann.
Vor diesem Hintergrund erhalten die Ergebnisse der Studie eine besondere Brisanz: Drei Viertel aller getesteten Webseiten sind „schlecht zugänglich“ (75 Prozent), ein Fünftel der Internetseiten ist der Studie zufolge „eingeschränkt zugänglich“ (22 Prozent), nicht einmal ein von zwanzig Online-Angeboten „gut zugänglich“ (3 Prozent). Und nur eine der insgesamt 116 untersuchten Webseiten kann nach den Kriterien der international etablierten Zugänglichkeitsrichtlinie für Web-Inhalte der Web Accessibility Initiative (WAI) als „sehr gut zugänglich“ eingestuft werden. Immerhin, es gibt auch Ausnahmen: Die Webseite des Spitzenreiters kommt auf 99 von 100 möglichen Punkten. Zum Vergleich: das Schlusslicht bringt es gerade einmal auf einen Gesamtwert von 37 Punkten.
Deutliche Unterschiede zeigen sich im Branchenvergleich: Platz eins belegen die Unternehmen der Gesundheitsbranche mit knapp 80 Punkten, gefolgt von den Betrieben des verarbeitenden Gewerbes (75 Punkte), den Versorgungsunternehmen (72 Punkte), den Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche (70 Punkte) und den Firmen aus dem Bereich Touristik, Verkehr und Logistik (66 Punkte). Auf dem letzten Platz liegen die Einzelhandelsbetriebe mit durchschnittlich 62 Wertungspunkten.
Bei einer Analyse der Ergebnisse muss vor allem den Programmierern ein schlechtes Zeugnis ausgestellt werden. Denn im wichtigen Prüfbereich der „korrekten Verwendung der Internetprogrammiersprachen“ erhalten neun von zehn getesteten Internetseiten (91 Prozent) weniger als 80 Prozent der Punktzahl. Hochgerechnet auf die Gesamtbewertung eines Online-Angebots bedeutet das „schlecht zugänglich“. Deutlich besser fällt das Ergebnis im Bereich der Kontext- und Orientierungsinformationen aus. Knapp drei Fünftel der untersuchten Webpräsenzen (59 Prozent) überschreiten die kritische 80-Prozent-Marke und warten somit mit einer intuitiv verständlichen Struktur auf.
Dagegen stellt die Gestaltung der Navigationsmechanismen Nutzer mit Handicap vielfach vor große Schwierigkeiten. Diese sind entweder nicht eindeutig strukturiert, als nicht näher definierte Grafiken ausgeführt oder nur mit Zusatztechniken wie Javascript benutzbar. Darüber hinaus fehlen häufig die alternativen Erklärungen für Grafiken und Buttons. Vor allem für Sehbehinderte und Blinde hat dies fatale Folgen: die Verwendung von Lesegeräten, die die Inhalte automatisch auslesen und in Blindenschrift umsetzen, ist nur eingeschränkt möglich. Die Nutzer erhalten entweder unverständlichen „Wortsalat“ oder Inhalte werden erst gar nicht als solche erkannt. Mit ähnlichen Schwierigkeiten haben übrigens die Internetsuchmaschinen zu kämpfen mit fatalen Folgen für die Auffindbarkeit der Internetseite im World Wide Web.
Die auf den Startseiten festgestellten Schwachstellen ziehen sich bei allen untersuchten Internetangeboten auch durch die Unterseiten. Vielfach treten die Barrieren hier sogar noch stärker zu Tage als auf den Startseiten. Dabei können auch Unterseiten durchaus relevant sein, enthalten sie doch oftmals Kontakt- und Bestellformulare oder bieten wichtige Informationen.
Zur Methodik: Für die Studie wurden insgesamt 116 zufällig ausgewählte Internetseiten von mittelständischen Betrieben mit Sitz in Deutschland mit einem Jahresumsatz von maximal 50 Mio. EUR untersucht. Als Basis der Studie dienten die Zugänglichkeitsrichtlinie für Web-Inhalte der „Web Accessibility Initiative“ (WAI) und die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV). Anhand von 14 Prüfbereichen wurden die Startseite und bis zu 3 Unterseiten der Online-Angebote mithilfe professioneller Auswertungstools etwa dem W3C-Validator des W3C-Konsortiums in 52 Einzelschritten im Hinblick auf ihre formale, technische und inhaltliche Qualität analysiert.
Die Studie steht im Internet unter http://www.indeca.de im Bereich "Aktuelles" ab sofort zum Download bereit.