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Regierung, Bundespräsident oder BVerfG: Wer stoppt das Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung?

BVDW-Experten sehen Verfassungskonformität nicht gegeben
BVDW | 25.01.2007

Der Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) zur Reform der Telekommunikationsüberwachung ist nach übereinstimmender Meinung aller BVDW-Rechtsexperten in entscheidenden Punkten verfassungswidrig. Vor diesem Hintergrund hat der Branchenverband die Bundesregierung in seiner Stellungnahme dazu aufgefordert, den Entwurf grundlegend zu überarbeiten und noch einmal den Dialog mit den Interessenvertretungen der Wirtschaft und der Nutzer zu suchen. Im Kern sehen die BVDW-Vertreter verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte verletzt sowie höchstrichterliche Entscheidungen ad absurdum geführt. So mahnen sie zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses, der informationellen Selbstbestimmung und kritisieren die im Einzelfall zulässige Überwachung von Journalisten, Rechtsanwälten und Ärzten sowie die immensen Kosten, die der Internetwirtschaft auferlegt werden.

„Angesichts der Tatsache, dass der Referentenentwurf wider besseren Wissens Grundrechte unserer Verfassung schlicht ignoriert sowie der noch anhängigen Klage Irlands gegen die Richtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof, stellt sich für uns eigentlich nur die Frage, wer das Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung stoppt“, konstatiert BVDW-Präsident Arndt Groth (ePages Software GmbH). „Die Bundesregierung ist gut beraten, den Entwurf zurückzuziehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Bundespräsident ein Gesetz aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unterzeichnet.“ Spätestens das Bundesverfassungsgericht wird nach Auffassung der Rechtsexperten des BVDW die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststellen. Ähnlich beurteilen sie die Aussichten für die EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vor dem Europäischen Gerichtshof. „Vor diesem Hintergrund kann die Bundesregierung eigentlich nur zu dem Schluss gelangen `Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende`. Alles andere wäre für uns nicht nachvollziehbar“, so Arndt Groth weiter.

Nur 0,001 Prozent ungelöste Straftaten wegen fehlender TK-Daten

Gleich reihenweise hatten Branchenverbände und Bürgerrechtsorganisationen Kritik am Referentenentwurf des BMJ geübt. Der BVDW hat bereits seit 2004 wiederholt seine verfassungsmäßigen Bedenken geäußert. „Dass nun doch ein derartiger Entwurf vorgelegt wurde, ist vor diesem Hintergrund schon einigermaßen überraschend“, kommentiert Gerd M. Fuchs, Referent Medienpolitik im BVDW. „Die Absurdität, alle Internet- und Mobilfunknutzer unter Generalverdacht zu stellen, bestätigt sogar das Bundeskriminalamt.“ Das BKA hatte erst vor gut einem Jahr Zahlen veröffentlicht, nach denen gerade einmal 381 Straftaten wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufgeklärt werden konnten. Gemessen am Gesamtaufkommen von 6,4 Millionen Straftaten, von denen rund 2,8 Millionen nicht aufgeklärt werden konnten, beträgt der Anteil der wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufklärbaren Straftaten weniger als 0,001 Prozent. „Für diesen Prozentsatz elementare Grundrechte in Frage zu stellen und das Vertrauen der Nutzer in die elektronischen Medien bis ins Mark zu erschüttern, ist absurd“, so Gerd M. Fuchs. „Obendrein bürdet man der Internet- und Mobilfunkwirtschaft auch noch die Kosten für die Bereitstellung entsprechender Hardware, Infrastruktur, nachgelagerter Prozesse und zusätzlicher Personalkosten auf. Geld, das für Investitionen in innovative Produkte und Services dringend benötigt wird, um international auf Augenhöhe zu agieren. Diese Kostenlawine scheint angesichts einer fehlenden Entschädigungsregelung für das BMJ überhaupt keine Rolle zu spielen.“

In der Praxis wenden sich schon jetzt Strafverfolgungsbehörden mit relativ unscharf formulierten Auskunftsersuchen an die Internetprovider. „Die Art und Weise, wie und in welchem Umfang diese Anfragen gestellt werden, lassen nicht selten den Schluss zu, dass es weniger um die Nachverfolgung von Vorermittlungen geht, sondern viel mehr auf Gutdünken nach Verdachtsmomenten in den Daten ‚geschürft’ wird“, vermutet Gerd M. Fuchs. „Mit der Ausdehnung der relevanten Straftatbestände auf Betrugsdelikte und der verdachtsunabhängigen Datenspeicherung, wie sie der Entwurf vorsieht, werden diese Anfragen ganz sicher nicht abnehmen.“

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In jedem Fall ist es aus Sicht des Branchenverbands nicht hinnehmbar, dass pauschal sensible Informationen über die sozialen Beziehungen und die individuelle Lebenssituation (inklusive Bewegungsprofilen) der mehr als 80 Millionen Bundesbürger gesammelt werden sollen, ohne dass im Einzelfall ein konkreter Straftatverdacht vorliegt. Das sogenannte „Schürfen“ nach Daten würde es gemäß der Auflagen der Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) schlimmsten Falls sogar ermöglichen, dass aufgrund einer per Telefon oder Internet übermittelten Beleidigung im Rahmen einer Auskunftserteilung ein durchgehender Bereitschaftsdienst vorgehalten werden muss. „Es ist schizophren, dass sich die gleiche Regierung an anderer Stelle massiv für den Verbraucherschutz einsetzt und etwa die gezielte Verarbeitung von Daten, die mündige Bürger zu Marketingzwecken zur Verfügung gestellt haben, kritisch beäugt“, so Peter J. Bisa, Mitglied im Gesamtvorstand des BVDW.

Aus Sicht der BVDW-Rechtsexperten nimmt der Gesetzgeber sehenden Auges eine nie da gewesene Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien in Kauf. So heißt es in der BVDW-Stellungnahme zum Entwurf: „Der BVDW sieht (...) einen Verstoß gegen das in Artikel 10 des Grundgesetzes verankerte Fernmeldegeheimnis sowie gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. (...) Die Durchführung der Maßnahmen erfolgt dabei ferner zunächst ohne Wissen des Betroffenen. Dass eine nachträgliche Mitteilungsverpflichtung für die Behörden sowie ein Rechtsmittel gewährt wird, vermag den vorliegenden Eingriff in Grundrechte nicht zu schmälern. (...) Der Schutz des Kernbereichs der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger darf sich nach Auffassung des BVDW nicht nur allein auf die Wohnung des Betroffenen erstrecken, sondern muss vielmehr auf den gesamten Bereich seiner unmittelbaren Privatsphäre und damit auch auf seine persönliche und intime Kommunikation ausgedehnt werden, um eine unverhältnismäßige Verletzung der Grundrechte des Bürgers auszuschließen. (...) Zudem hat das Bundesverfassungsgericht zweifelsfrei festgestellt, dass ein systematisches Ansammeln sensibler Daten eines Betroffenen ohne konkreten (Tat)Verdacht verfassungswidrig ist.“ Die Umsetzung der laut Entwurf vorgesehenen Regelungen würde nach übereinstimmender Auffassung einschlägiger Experten nicht nur dieses Urteil ad absurdum führen, sondern auch dazu führen, dass verfassungsrechtliche und durch höchstrichterliche Rechtsprechung festgelegte unabdingbare Grundsätze durch den Gesetzgeber wissentlich verletzt werden.

Auch die Ausnahmeregelungen, nach denen grundsätzlich eine Überwachung von Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten und anderen Geheimnisträgern zulässig wäre, stößt auf massive Kritik. „Die Möglichkeit und Pflicht zur Auskunftsverweigerung bilden eine unerlässliche Vertrauensgrundlage für diese Berufsgruppen“, kommentiert Gerd M. Fuchs. „Diese Rechte sind genauso schützenswert wie die Rechte von Seelsorgern, Strafverteidigern und Abgeordneten, die laut Entwurf unantastbar sind.“ Dass mit Irland ausgerechnet ein Land gegen die EU-Richtlinie vor dem EuGH interveniere, in dem die gesetzlich vorgeschriebenen Speicherfristen schon jetzt mehrere Jahre betragen, werten die Experten des BVDW zudem als ein weiteres Indiz, dass die beabsichtigten Maßnahmen keinen wirklichen Beitrag zur Vereitelung und Aufklärung von Straftaten leisten. „Die Kriminalstatistiken Irlands belegen das jedenfalls nicht“, stellt Peter J. Bisa, der auch Leiter des Arbeitskreises Medienpolitik ist, fest.

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