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Mass Customization im Direktmarketing

Mass Customization, die individuelle Massenfertigung. (Buchbeitrag)
Holger Kuhfuß | 14.11.2008

Wer eine Städtetour durch Deutschland unternimmt, wird begeistert sein von den individuellen Eigenheiten, die jede deutsche Großstadt aufweist. Weniger Euphorie kommt dagegen bei einer zunehmenden Zahl von Konsumenten auf, wenn sie durch deutsche Fußgängerzonen und Einkaufszentren bummeln. Filialisten wie Saturn, H&M, Mango, Orsay, Mediamarkt oder Douglas haben die Fußgängerzonen der Großstädte fest im Griff. Man findet überall dieselben Geschäfte mit einem nahezu identischen Angebot und demselben Marktauftritt.

Dabei wächst der Wunsch nach Individualität bei den meisten Konsumenten unaufhaltsam. Und genau hier schlägt die Stunde eines Marketingtrends, der sich zunehmend im Marketingmix etabliert: Mass Customization, die individuelle Massenfertigung. Ziel dabei ist es, die Fertigung und den Vertrieb individueller Produkte mit der Effizienz vergleichbarer Massenprodukte zu vereinbaren. Die gleichen Kunden, die bisher ein Standardprodukt gekauft haben, haben nun die Möglichkeit, sich für eine individuelle Lösung zu entscheiden.


Von der Massen- zur Variantenproduktion.

Einer der Vorreiter der klassischen Massenproduktion war vor über hundert Jahren Henry Ford. Er gründete den Automobilhersteller Ford Motor Company und perfektionierte konsequent die Fließbandtechnik im Automobilbau. Ford erklärte damals: „Sie können jede Farbe haben, solange es Schwarz ist.“ [1] Da sich jedoch die Wettbewerbsbedingungen im Laufe der Zeit änderten, erschloss sich eine neue Form der Produktion, die sogenannte maßgeschneiderte Massenproduktion, die ihren Fokus auf individuelle Kundenwünsche setzte. So entstanden in vielen Branchen im Laufe der Jahrzehnte ausufernde Sortimente mit unzähligen Produktvarianten. Dieser Hang zur immer stärkeren Kundenorientierung führt noch heute in vielen Unternehmen zu stark steigenden Kosten und extremer Komplexität – ein Dilemma, dem entgegenzuwirken sehr schwierig ist.

Entsprechend ist heute eine zweigleisige Wettbewerbsstrategie erforderlich. Um dauerhaft im Markt zu bestehen, müssen erfolgreiche Unternehmen an beiden Seiten der klassischen Wettbewerbsstrategien (Differenzierung und Kostenführerschaft) ansetzen und deren Potentiale miteinander kombinieren. [2]


Mass Customization – der Kunde wirkt mit.

Produktvarianten in Hülle und Fülle bieten also noch keinen Ausweg aus der Misere, immer individuellere Produkte bei möglichst geringen Kosten anbieten zu müssen. Beim Mass Customization, also der kundenindividuellen Massenproduktion, wird das Prinzip eines Maßschneiders mit modernen Fertigungsund Informationstechnologien verbunden und so effizient und erschwinglich gemacht. Der Maßanzug zum Preis eines Anzugs von der Stange, gefertigt unter Berücksichtigung der besonderen Wünsche des Kunden. Was Mass Customization attraktiv macht, ist die Aussicht, drei wichtige Unternehmensziele gleichzeitig im Auge zu behalten: Qualität, Kosten und Kundenorientierung.

Der entscheidende Faktor ist dabei die Beteiligung des Kunden. Er redet mit, gestaltet mit und wird mitunter fast schon zum Mitarbeiter des Unternehmens. Und das ist eine ganz besondere Herausforderung für das Direktmarketing. Als eines der prägnantesten Beispiele gilt das US-Unternehmen Threadless. Der im Jahr 2000 gegründete Bekleidungsspezialist bietet nichts anderes als bedruckte T-Shirts an, die von den Kunden selbst gestaltet werden. Damit nicht genug: Die Kunden unterstützen bei weiteren Aufgaben wie Werbung der Katalogproduktion (Reichwald/Piller 2006, S. 2).

Und auch in Deutschland schießen Unternehmen wie Threadless wie Pilze aus dem Boden. Einige Anbieter (vergleiche Abb. 1-2, siehe Buch) setzen dabei auf die vollständige Interaktion mit den Kunden (zum Beispiel in Form von Blogs). Dreh- und Angelpunkt ist vor allem das Internet, das als ein Treiber des Themas gilt.

Inzwischen macht Mass Customization vor kaum einer Branche halt. Egal, ob Mode- oder Möbelindustrie, Uhrenhersteller oder Reiseunternehmen – das Konzept der individuellen Massenproduktion hat Zulauf.


Bemz möbelt IKEA auf
Das Unternehmen Bemz ermöglicht seinen Kunden, vor langer Zeit gekaufte IKEA-Sessel oder Sofas mit einem schönen, neuen Bezug von Bemz zu versehen und so ein Massenprodukt ganz dem persönlichen Stil und Geschmack anzupassen. Springwise.com, eines der größten Internet-Portale für die weltweite Suche nach den meistversprechenden Geschäftsideen und -konzepten, hat Bemz zur besten Geschäftsidee für den Heim- und Hausbedarf 2006 ausgezeichnet. Die Produkte sind ausschließlich übers Internet zu bestellen und jeder Bezug wird erst nach der Bestellung gefertigt. Der Preis ist nicht höher als beim örtlichen Schneider. Bemz ist dabei ein eigenständiges Unternehmen und unabhängig von IKEA. Dennoch entsteht eine Win-Win Situation: die IKEA-Sessel und -Sofas bleiben länger interessant und IKEA kann sich ganz auf die Massenfertigung konzentrieren. [5]


Bei MINI gibt es Design aufs Dach.
Der Kleinwagen MINI aus dem Hause BMW hat sich längst als echter Trendsetter im modernen Marketing einen Namen gemacht. Der letzte Coup und ein fulminantes Beispiel für Mass Customization ist das individualisierte Dach. So kann jeder MINIFahrer seinem Fahrzeug seinen ganz persönlichen Design-Stempel aufdrücken. Über das Internet bestellt man einfach eines von unzähligen grafischen Elementen oder seinen eigenen Entwurf für das Fahrzeugdach. Und wer beim Ein- und Aussteigen individuelle Akzente setzen will, ordert die Einstiegsleisten mit dem beleuchtetem Schriftzug seines Namens. [6]

Möbel nach Maß.
Die Düsseldorfer Firma masstisch GmbH & Co.KG ist Marktführer für maßgefertigte Massivholztische und -bänke, Holzbetten, Holzregale und Maßcouchen. Alles wird individuell auf Maß gefertigt. Hier kann jeder seine Traummöbel im Internet zusammenstellen, online auswählen aus verschiedenen Maßen und Hölzern - und mit der Maus über die Verarbeitung und Ausführung entscheiden. [7]


Um all diese Beispiele erfolgreich zu betreiben, müssen die Unternehmen die kritischen Erfolgspositionen (KEP) des Mass Customizing kennen und einsetzen. Im Folgenden werden die fünf wesentlichen KEP dargestellt.


Wie viel Individualität will der Kunde?

Dass Kunden nicht mehr nur an Standardlösungen interessiert sind und oft auch ausgefallene Wünsche formulieren, liegt vor allem an den nahezu unbegrenzten Informationsmöglichkeiten des Internet. Der Sportartikel-Hersteller adidas hat zur Jahrtausendwende mit „mi adidas“ den Einstieg in die individuelle Massenproduktion vollzogen. Hier kann jeder seinen individuellen Sportschuh anfertigen lassen, der nicht nur die optische Gestaltung (Farbe, Schriftzüge) zur Wahl stellt, sondern auch Fußlänge und -breite oder den persönlichen Laufstil einbezieht. Völlig grenzenlos darf die Gestaltungsfreiheit des Kunden allerdings nicht sein. Das Resümee der Verantwortlichen (Berger 2005) bei adidas lautet: „Der Kunde braucht Vorgaben, komplett designen will er seinen Schuh nicht“. Wichtig ist es also, den Kunden nicht zu überfordern. „Wer die Wahl hat, hat die Qual“ – dieser Effekt sollte bei individualisierter Massenproduktion nicht eintreten.


Mass Customization muss begeistern

Die wichtigste Frage, die sich Unternehmen vor der Einführung eines Mass Customization Systems stellen sollten, ist: Fühlt sich der Kunde, wenn er mitreden und mitgestalten kann, einem Unternehmen stärker verbunden? Denn schließlich ist Mass Customization ein Instrument, das in erster Linie die Bindung des Kunden an ein Unternehmen verstärken soll. Langfristig und damit nachhaltig gelingt das nur, wenn beim Kunden echte Begeisterung ausgelöst wird. Entscheidend ist damit nicht das bloße Angebot an den Kunden, das Produkt oder die Dienstleistung mit zu gestalten. Das Ergebnis muss hinsichtlich Qualität, Ausführung und Design mehr als zufrieden stellend sein – damit der Kunde mit positiver Überraschung und damit mit Begeisterung reagiert.

Voraussetzung dafür, dass sich Begeisterung durch die Implementierung eines Mass Customization Konzepts immer wieder neu entfachen lässt, ist, dass die Kommunikation zum Kunden aufrechterhalten wird. Ein Unternehmen wie adidas, dessen Schnittstelle zum Kunden bisher die Händler waren, sammelte durch die Einführung von „mi adidas“ völlig neue Erfahrungen. Die Fokussierung auf den Endkunden hat bei der Herzogenauracher Sportartikelfirma ein bisher unbekanntes Bedürfnis geweckt: Die Kommunikation mit den Kunden zu pflegen und auszubauen (Berger 2005). Dadurch entsteht ein Informationskreislauf, der den Sportartikel-Experten neben anderen Informationen auch ein Gefühl dafür gibt, was wirklich nötig ist, um den Kunden zu begeistern – und damit dauerhaft an sich zu binden. Und das war und ist schon immer eine zentrale Herausforderung im Direktmarketing gewesen.

Auf die entscheidende Frage aber gibt es keine pauschale Antwort: Wie weit soll die Integration des Kunden in das Unternehmen gehen? Diese Frage muss jedes Unternehmen für sich beantworten.


Voraussetzungen schaffen zur unternehmensinternen Umsetzung

Mass Customiziation zieht weitreichende Veränderungen in Fertigung, Materialfluss, Logistik und Kundenkommunikation nach sich. Statt beispielsweise wie bisher eine bestimmte Menge an Schuhen herzustellen, muss für jeden Kunden ein individueller Schuh produziert werden. Das bedeutet viele verschiedene Auftragsdurchläufe anstatt eines einzigen. Um die wachsende Menge an Informationen verarbeiten zu können, sind ausgefeilte IT-Systeme und Produktionstechniken nötig.

Als Schlüssel zur Mass Customization gilt dabei die Modularisierung der Produkte. Sprich: der Kunde kann nur bestimmte Elemente des Produkts verändern. Entscheidend ist, wann er die Möglichkeit zur Mitwirkung erhält. Nach Piller ist „die Festlegung des optimalen Punktes der Kundeninteraktion“ eine der „wichtigsten Aufgaben bei der Einrichtung eines Mass Customization Systems“ (Reichwald/Piller 2006, S. 210). Denn daraus ergibt sich der „optimale Vorfertigungsgrad“ (Reichwald/Piller 2006, S. 210). Grundsätzlich sind zwei Möglichkeiten denkbar (Abb. 3, siehe Buch).

Alternative 1: Die einzelnen Module eines Produkts werden auftragsneutral erstellt, auf Lager gelegt und später individuell bearbeitet. Alternative 2: Es wird ein bestimmter (relativ hoher) Anteil auftragsneutraler Arbeitsgänge festgelegt. Die Vorproduktion kommt jedoch erst in Gang, wenn der Kunde einen Auftrag erteilt. Dadurch können im Vergleich zu Alternative 1 Zwischenlagerkosten und Bestandsrisiko verringert werden (Reichwald/Piller 2006, S. 212)

Im Gegensatz zu Produkten von der Stange löst ein individuell gefertigtes Produkt beim Kunden aufgrund der höheren Freiheitsgrade in der Gestaltung ein größeres Maß an Unsicherheit aus. Das trifft laut Reichwald/Piller (2006) auf alle drei Phasen des Kaufentscheidungsprozesses zu, also Vorkauf-, Kauf- und Nachkaufphase. In der Vorkaufphase etwa ist der Kunde schon allein dadurch irritiert, dass nur ein Versprechen (Beschreibung der Leistung) und kein fertiges Produkt geboten/gezeigt werden kann. In der Kaufphase wiederum, in der ein Kunde an der Erstellung der Leistung mitwirkt, kann eine Vielzahl an Optionen und Informationen zur Unsicherheit des Kunden führen (Reichwald/Piller 2006, S. 238).

Welche Phasen die Kundeninteraktion in einem Mass Customization System im Einzelnen durchläuft, haben Reichwald/Piller an Hand eigener empirischer Forschungen untersucht. Das daraus entwickelte Interaktionsmodell betrachtet den Mass Customization Prozess ausschließlich aus der Sicht des Kunden (Abb. 4, siehe Buch). Zu den „Vorarbeiten“ beim Aufbau eines Mass Customization gehört neben der Anpassung von Produktion, Organisation und Logistik, auch das Wissen über die Wünsche des Kunden.


Die Kosten- und Nutzenbilanz muss stimmen

Ein maßgeschneiderter Anzug zum Preis eines Anzuges von der Stange? Aus Sicht des Kunden ist das vielleicht wünschenswert. Umfragen belegen jedoch, dass die meisten Konsumenten bereit sind, für ein individuell hergestelltes Produkt mehr zu bezahlen.

Verglichen mit der traditionellen Massenproduktion fallen bei einem individuell gefertigten Produkt nicht nur höhere Produktionskosten an. Als entscheidender, oft allerdings unterschätzter Faktor, gelten die Kosten, die aus der erhöhten Interaktion mit dem Kunden entstehen (Reichwald/Piller 2006, S. 216). Mit der Einführung eines Mass Customization Systems wird der Kunde über Konfigurationsmodule an der Entstehung seines Produktes beteiligt. Diese Module sind jedoch keine Einbahnstraße. Der Kunde wird beraten, er fragt nach, formuliert neue Wünsche und soll auch darauf eine kompetente Antwort bekommen. Außerdem ist, um die beschriebenen Unsicherheiten aufzufangen, ein hohes Maß an vertrauensbildenden Maßnahmen nötig. Nach Reichwald/Piller sind diese zusammen mit einer „differenzierten Kommunikationspolitik die wesentlichen Kostentreiber“ von Mass Customization (Reichwald/Piller 2006, S. 220).

Der positive Effekt von Mass Customization gegenüber der reinen Massenproduktion ist ein geringeres Risiko, auf Ladenhütern sitzen zu bleiben. Auch auf die Kundenbindung kann sich Mass Customization positiv auswirken. Bedingt durch die Interaktion des Kunden steigt die Kontaktfrequenz und damit auch die Chance, den Kunden enger an sich zu binden. Da im Verlauf der Kundenbeziehung eine Fülle von Daten gesammelt werden, lässt sich der Kontakt in Richtung Kunde weiter ausbauen und dabei auch für Cross- und Up-Selling-Angebote nutzen (Hartmann, Kreutzer, Kuhfuß 2004, S. 59)


Mass Customization im Rahmen von Direktmarketing etablieren

Ist Mass Customization eine ernst zu nehmende Option, um Direktmarketing noch stärker in einem Unternehmen zu implementieren? Wenn es gelingt, den Kunden durch ein solches Angebot zu begeistern, dann heißt die Antwort „ja“. Derzeit stehen die Chancen dafür gut, weil Mass Customization Systeme in vielen Branchen (noch) eher die Ausnahme als die Regel sind. Der Kunde muss vom Nutzen eines solchen Angebots meist nicht überzeugt werden. Er ist vielfach schon auf der Suche nach einer auf seine speziellen Bedürfnisse zugeschnittenen Lösung. Doch die findet er eben nur beim Maßschneider oder Handwerker – zu einem vergleichsweise hohen Preis. Mass Customization dagegen zielt auf diejenigen ab, die heute Massenware kaufen aber an individuellen Lösungen interessiert sind (Reichwald/Piller 2006, S. 202).

Abgesehen von einem Imagegewinn in Dimensionen wie „zukunftsorientiert“ und „kundennah“ liegt der eigentliche Nutzen für die Unternehmen in der konsequenten Ausschöpfung der vom Kunden gelieferten Informationen. „Die Kunden wollen gefragt werden“, haben die Verantwortlichen bei adidas nach Einführung ihres Mass Customization Systems festgestellt (Berger 2005). Eine Marke erlebbar machen, neue Informationen über das Produkt sammeln, die Beziehung zum Kunden mit Leben füllen, all das lässt sich mit Mass Customization erreichen. Angesichts der fortschreitenden Individualisierung der Konsumgesellschaft ein Instrument, das seine Zukunft noch vor sich hat.


Literatur

[1] www.wikipedia.org
[2] www.oscar.de/newsletter/nl_masscustom_prinzipien.php
[3] www.printplanet.de
[4] www.spreadshirt.net
[5] www.bemz.com
[6] http://www.mini.de/de/de/roof_designer/index.jsp?refType=teaserStandard&refPage=/de/de/general/homepage/content.jsp
[7] www.masstisch.de
Berger Ch.: Das mi adidas-und-ich-Projekt, Erfolgreiche Kundenintegration bei Adidas. – 31. Münchener Marketing Symposium, LMU München, 8. Juli 2005.
Hartmann W., Kreutzer R., Kuhfuß H.: Kundenclubs & More, Innovative Konzepte zur Kundenbindung. – S. 59, Wiesbaden, 1. Aufl., 2004.
Kreutzer R., Kuhfuß H., Hartmann W.: Marketing Excellence, Sieben Schlüssel zur Profilierung Ihrer Marketing Performance. – S. 120, Wiesbaden, 1. Aufl., 2007.
Piller F.: Fünf Jahre Mass-Customization News, Der Stand des Konzepts, Newsletter. – März 2002, (http://www.mass-customization.de/news/news02_01.htm).
Reichwald R., Piller F.: Interaktive Wertschöpfung. – Wiesbaden, Mai 2006.
www.oscar.de/newsletter/nl_masscustom_prinzipien.php