Storytelling: Was Marken von Netflix lernen können
Die Zahlen spiegeln den persönlichen Eindruck wider: Jedes Jahr werden 700 (!) neue Serien produziert, Tendenz steigend, und 2018 hat Netflix acht Milliarden US-Dollar in neue Serien investiert.
Nichts hat Storytelling in den letzten Jahren so sehr verändert wie Netflix. Wir leben in einer Zeit, in der Serien wie „House of Cards“, „Orange is the New Black“, „Stranger Things“ oder „Dark“ zum Gesprächsstoff in Meetings und auf Geburtstagen geworden sind. Einer Zeit, in der Netflix omnipräsent geworden ist, und das Storytelling, das dort passiert, nicht nur unglaublichen Einfluss auf die Filmbranche hat, sondern auch für die Brand-Kommunikation. Seit diesen Hit-Serien erwarten wir ähnliches, smartes Storytelling auch von Brands.
Netflix hat einiges verändert und das Netflix-Storytelling hängt eng mit dem Business-Modell zusammen
Seit der Gründung als DVD-Versand 1997 hat Netflix einiges verändert:
- Wie wir Serien gucken. Man kann sich heute fast kaum noch dran erinnern, aber es gab eine Zeit vor dem Binge-Watching, als man noch sieben Tage auf eine neue Folge warten musste. Das hat Netflix mit dem Modell, das eine ganze Staffel auf einmal verfügbar macht, völlig revolutioniert.
- Wie wir für Content bezahlen. Dann hat Netflix verändert, wie wir für diesen Content bezahlen, nämlich mit einem monatlichen Subscription-Modell und nicht pro Film etwa.
- Distribution. Netflix hat auch die Distribution verändert. Allein das Wort „Streaming“ oder auch „Binge-Watching“ gab es vor Netflix gar nicht.
- Wie Geschichten erzählt werden. Und nicht zuletzt hat Netflix verändert, wie Geschichten erzählt werden.
Man kann jetzt sagen: Okay, das eine ist das Business-Modell, das andere der Content. Aber der Erfolg von Netflix hängt ganz stark mit einer neuen Art des Storytellings zusammen hängen. Denn dieses neue Storytelling macht es überhaupt möglich, dass wir dranbleiben und binge-watchen.
Wie hat Netflix Storytelling verändert?
Charakter vs. Plot
Ein Element, das Netflix beim Storytelling verändert hat, ist, dass nicht mehr der Plot im Vordergrund steht, sondern die Charaktere. Das sieht man ganz deutlich bei „Orange is the New Black“ und wenn man sich die Frage stellt: Worum geht es in dieser Serie eigentlich?
Die Frage ist im Prinzip nicht zu beantworten: Es geht um alles. Liebe, Einsamkeit, Trauma, Mental Health, Kindheiten, New York, Hühner? Die Story der ersten Staffel kann man noch zusammenfassen – und das ist etwas, was die Drehbuchautoren „High Concept“ nennen: „Es geht um Piper Kerman, eine Frau in ihren 30ern, die zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt wird, weil sie in ihrer wilden Vergangenheit einen Koffer mit Drogen geschmuggelt hat.“
Aber – und das ist das Spannende am Storytelling dieser Serie: Je weiter die Serie fortschreitet, desto eher ist Pipers Story eine von vielen. Es geht um die Charaktere statt um einen Plot. Und der Fokus liegt nicht mehr so sehr auf der Frage, was passiert, sondern warum es passiert. Uns interessieren die Motivation, die Hintergründe, die Backstory der Charaktere.
Oder anders formuliert: Wir wollen nicht mehr nur wissen, was passiert, sondern wir wollen verstehen, warum es passiert!
OITNB beantwortet – ab der dritten Staffel – in jeder Folge die Frage: Wie ist diese Frau hier hingekommen? Wie ist sie zu der Person geworden, die sie ist? Wieso ist sie im Gefängnis gelandet? Was ist die Backstory?
Diese Motivation und Backstorys zu zeigen, wird auch für die Brand-Kommunikation 2020 immer wichtiger. Eine Brand, die das bereits macht, ist Nike.
Auch Nike setzt den Fokus auf Charaktere
Nike setzt in seinen Kampagnen ganz stark auf Charaktere und Backstorys. Das begann 2017 mit der Dream-Crazy-Kampagne des Football-Players Colin Kaepernick. Kaepernick kniete sich bei der Nationalhymne und aus Protest gegen Polizeigewalt hin, anstatt sich zu erheben und zu stehen. Die Story ist schnell erzählt, aber Nike fokussiert sich hier vollständig auf den Charakter und auf die Message hinter der eigentlich Story: „Glaube an etwas, auch wenn es bedeutet, alles zu opfern“ – eine ganz universelle Botschaft.
Natürlich steht Kaepernick für eine Story, aber durch den Fokus auf sein Gesicht wird die eine Story gleichzeitig größer, universeller. Wird vom Spielfeld zur in die Welt getragen.
Natürlich gab es schon immer Brand-Kooperationen mit Promis, aber Kaepernick ist ein Beispiel für eine Real-Life-Story, die politisch ist und gleichzeitig individuell und universell. Und diese Everyday Heroes zu zeigen und deren Storys zu erzählen, wird immer wichtiger für Brands. Menschen statt Helden
Ein weiteres Element, wie Netflix Storytelling verändert hat, ist, Menschen statt Helden zu zeigen. Und das passiert sogar in Superhelden-Adaptionen wie „Jessica Jones“. Die Serie ist deshalb spannend, weil sie eine Adaption eines Marvel-Superhero-Comics ist und eine klassische Superhelden-Geschichte, in der die Rollen zwischen Gut und Böse normalerweise ganz klar verteilt sind.
Aber: Hier gibt es keine klare Trennung zwischen Gut und Böse mehr. Charaktere sind beides, entwickeln sich. Sind erst gut und dann böse oder andersherum. Charaktere, die eigentlich gut sind, bringen unschuldige Menschen um. Menschen, die Helden sein wollen und unbedingt die Menschen vor dem Bösen bewahren wollen, werden plötzlich selbst zu dem, gegen das sie eigentlich ankämpfen.
Immer wieder thematisiert die Serie ganz direkt: Welche Geschichte brauchen wir?
Brauchen wir 2020 noch ein Happy End? Ergibt ein Happy End um jeden Preis noch Sinn für die Zeit, in der wir leben? Oder wie kann das aussehen?
Die Alternative zur Heldenreise ist eine spannende Entwicklung für die Brand-Kommunikation. Aktuelle Kampagnen, die so etwas wie einen Gegenentwurf dazu bilden, sind zum Beispiel Burger King oder ein weiteres Mal Nike.
Bei beiden geht es nicht mehr darum, die Menschen oder auch eine Marke als „Helden“ zu inszenieren, sondern um eine eher komplexere Darstellungsweise von Leben, Glück und Erfolg – und an welcher Stelle Brands ins Spiel kommen.
Die Story von uns allen
Egal, um welche Serie es geht und ob sie im Gefängnis spielt oder aus Sicht eines Teenagers mit Autismus („Atypical“) – Netflix schafft es mit seinem Storytelling, Geschichten so zu erzählen, dass wir uns selbst darin wiederfinden können. Selbst wenn sie in einer Umgebung spielen, die mit unserer nichts zu tun hat: Netflix erzählt unsere Storys.
Unsere Storys zu erzählen und damit ein Customer-Centric-Storytelling zu betreiben, wird auch 2020 für Brands eine Herausforderung bleiben. Marken müssen es schaffen, unsere Storys zu erzählen, wenn sie ihre Kunden erreichen wollen.
Ein Unternehmen, dass das sehr gut schafft, ist Back Market, ein Marktplatz für Refurbished iPhones. Back Market erzählt in einer aktuellen Kampagne die Geschichte einer Generation, die zwar Erlebnisse mehr schätzt als materielle Dinge. Die aber trotzdem nicht auf ein iPhone verzichten will. In zwei einfachen Bildern wird hier zum einen die „Shot on iPhone“-Kampagne von Apple aufgenommen, gleichzeitig gezeigt, welche Bilder man machen kann, wenn man sich nicht das teure Originalgerät kauft, sondern das Geld für Erlebnisse ausgibt.
Netflix hat mehr verändert als nur das Bezahlmodell oder die Distribution
Mit einer neuen Art des Storytellings hat Netflix auch verändert, warum wir Serien gucken. Lange Zeit diente das Fernsehen der Zerstreuung und dem Abschalten vom Alltag. Das hat sich mit einer neuen Art des Storytellings verändert. Wir schauen Serien nicht mehr, um dem Leben zu entfliehen, sondern um es besser zu verstehen.
Dieser Anspruch wird 2020 auch an Marken gestellt werden und die Frage wird lauten: Wie kann man Storys entwickeln, bei denen man nicht nur mitfühlen kann, sondern die einem helfen, die Welt und sich selbst ein kleines bisschen besser zu verstehen?