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„Wenn der Schuh passt, dann läuft es“

Rollen bringen Erwartungshaltungen mit sich und definieren die Spielregeln sozialen Zusammenlebens.
Andreas Lorenz | 29.07.2020
„Wenn der Schuh passt, dann läuft es“ © danzig & unfried
 

Auszug aus dem gleichnamigen Buch.

Rollen bringen Erwartungshaltungen mit sich

In all unseren sozialen Umfeldern – im Beruflichen, Privaten und Gesellschaftlichen – werden Erwartungshaltungen an uns gerichtet, die aus Sicht der Erwartungssteller in die jeweilige Rolle »passen«. Ob und inwieweit wir aufgrund unserer Werte, Vorstellungen und Potenziale damit einverstanden sind, prägt die empfundene Qualität der Rollen, die wir zu spielen, auszufüllen und zu erfüllen haben.

Welcher Schuh ist mir zu klein, weil ich zu viel mehr in der Lage wäre, als dass ich in der Rolle darf?

Welcher Schuh ist mir (noch) zu groß, weil ich darauf nicht ausreichend vorbereitet (worden) bin, was in der neuen Rolle von mir erwartet wird?

Welcher Schuh hat mir damals mal gutgestanden, weil es für die Rolle die passende Zeit war, heute aber nicht mehr, weil ich mich verändert habe?

Welche Schuhe habe ich von anderen bekommen, ob ich das wollte oder nicht,und stecke ich nun in den Rollen fest oder stumpfe ab?

An welchen (Kinder-)Schuhen halte ich heute noch fest, obwohl ich ihnen längst entwachsen bin, und ärgere mich daher über das verzerrte Rollenbild?

Welche Schuhe sind schlicht ausgelatscht oder löchrig, von denen ich mich trennen muss, um nicht länger nasse oder kalte Füße zu bekommen?

Bei welchem Schuh ist vielleicht nur der Schnürsenkel gerissen,  und es bräuchte nicht mehr als eine kleine Bemühung, damit ich mich in der Rolle wieder wohlfühle?

Trage ich zum jeweiligen Anlass den richtigen Schuh,  der mir passt und funktionell geeignet ist, um in der Rolle mit einem sicheren Auftreten zu glänzen?

Rollen definieren die Spielregeln sozialen Zusammenlebens

Nun mag der eine oder andere von Ihnen sagen: »Für mich gibt es keine Grenzen, die mich in meinem Selbstsein einschränken! Wer kann mir schon sagen, wie ich zu sein habe?«

Das ist eine gute Frage, und hier sind die Antworten:

Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto mehr Angebote an Rollen hält sie bereit und desto vielfältiger sind die Schuhe, die ihre Mitglieder tragen (können).

Dieser Komplexität zu begegnen definieren Rollen daher unweigerlich die Spielregeln sozialen Zusammenlebens, und zwar unabhängig vom jeweiligen Aktanten, also dem involvierten Handelnden.

Wissenschaftliche Einigkeit in Soziologie, Sozialpsychologie und Psychologie besteht darin, dass soziale Rollen »Bündel normativer Verhaltenserwartungen sind, die sich an das Verhalten von Rolleninhabern richten«.[1]

Im sozialen Kontext wissen wir, was von uns erwartet wird, zum Beispiel als Vater oder Mutter, Angestellter, Arbeitskollege, Führungskraft, Verkehrsteilnehmer, Sportskollege usw. Sobald wir mit anderen Menschen in Interaktion treten, begegnen wir normalerweise einem vertrauten Raster von Verhaltensnormen. Ohne die Definition sozialer Rollen wären moderne, arbeitsteilige Gesellschaften kaum möglich.

Der Mensch als gesellschaftliches Wesen kann den Ansprüchen der Gesellschaft nicht entgehen, und diese Ansprüche gerinnen in Rollenmodellen. Eine moderne Industriegesellschaft würde ohne einen sozialen Grundkonsens, wer sich wann und in welcher Situation wie zu verhalten hat, nicht funktionieren.

Teilweise hochkomplexe Normen wie Gesetze, Verkehrsregeln, aber auch kulturelle Wertvorstellungen und einfache Umgangsformen steuern unser Verhalten und verhindern, dass wir pausenlos und stets aufs Neue aushandeln müssen, wie wir miteinander umgehen (wollen).

Sie sehen, da haftet an unseren Schuhsohlen so einiges, was uns zunächst davon abhält, grenzenlos authentisch zu sein.

Menschen, die sich diesem Kanon verweigern, erfahren eher Ausgrenzungen, finden sich oftmals in Subkulturen wieder oder landen in Extremfällen sogar hinter Gittern.

Rollenerwartungen, die zu lernen unsere Gesellschaft uns auferlegt, können unser Wissen vermehren. Sie können uns aber auch zu Verdrängungen zwingen und in Konflikte führen, wenn wir dadurch gegen unsere eigenen Vorstellungen zu leben haben.[2] Unsere letztendliche Persönlichkeit resultiert in großem Maße aus der Erziehung, den Konditionierungen und Etikettierungen, die wir über unsere Rollen erteilt bekommen.

Der Preis für ein Paar Schuhe, das uns nicht passt

Was kostet eigentlich so ein Paar Schuhe, von denen sich herausstellt, dass sie uns irgendwie drücken und unbequem sind, was sich auch durch weiteres Tragen der Schuhe nicht verbessern wird? Und kann man sich diese Kosten nicht vielleicht ersparen?

Soziale Rollen kann man als Zwang oder Zumutung an das eigene Ich erleben, auf Kosten unseres seelischen Wohlbefindens und auf Dauer auch zu Lasten der psychischen und physischen Gesundheit.

Ein extrem teurer Preis für einen Schuh!

Auch können einmal übernommene Rollen dermaßen in Fleisch und Blut übergehen, dass das erwünschte Verhalten in dieser Rolle auch auf unser Rollenauftreten in anderen Lebensbereichen abfärbt. Rollen können somit auf unsere Person zurückwirken. Nicht passende Schuhe können dauerhaft als fremd erlebt werden. Im schlimmsten Fall erliegen wir dem Trugschluss, dass diese Schuhe ein fester Bestandteil von uns geworden sind.

Lassen Sie uns an dieser Stelle aufatmen, denn:

Aus Ihrer Haut können Sie nicht heraus, sie ist unumstößlich ein Teil von Ihnen.

Aber Sie können jeden Morgen aufs Neue entscheiden, ob Sie sich diesen oder jenen Schuh wieder anziehen (wollen) oder nicht. Selbstverständlich in beiden Fällen mit allen Konsequenzen und Konsequenzen aus den Konsequenzen.

Rollen, die uns ermöglichen, mit ihnen zu wachsen

Jede neue Rolle kann für Sie als Individuum auch ein Sich-Erproben in neuen Kontexten und damit eine Lern- und Entwicklungsmöglichkeit hin zu Ihrem Selbst sein. Wenn es zu einem neuen Anlass der entsprechend richtige neue Schuh ist, können Sie mit festen Schritten Neuland betreten – wenn Sie es einmal so betrachten wollen.

Eine für uns bisher unbekannte und zunächst auch ungewohnte neue Rolle setzt die Bereitschaft voraus, unser Verhaltensrepertoire anzupassen und zu erweitern. Ein auf einem trotzigen »Ich bin, wie ich bin« zu beharren, kann Ausdruck einer starken Überzeugung sein, die in manchen Fällen jedoch hinderlich ist, wenn es gilt, die neuen Schuhe erst einmal einzulaufen.

Es geht bei dem Anpassungs- und Erweiterungsprozess in einer neuen Rolle nicht darum, sein Selbst anderen zuliebe zu verleugnen oder sich derentwillen mutwillig neu zu erfinden. Im Gegenteil. Mit der neuen Rolle haben Sie die Chance, bestimmte Züge Ihrer eigenen Persönlichkeit stärker zu betonen und einzusetzen, während Sie andere Merkmale Ihrer Person eher zurückstellen. Es bedeutet, dass Sie sorgfältig abwägen, welche Facetten Ihrer Persönlichkeit Sie wem gegenüber offenbaren, welche persönlichen Stärken Sie vielleicht gezielt im Beruf einbringen können und welche Ihrer Seiten Sie besser außerhalb Ihrer beruflichen Aufgabe ausleben.

Wichtig dabei ist, dass Sie sich Ihre Wahl und Handlungen bewusst machen und nicht jenen an der Rolle geknüpften Fremdmechanismen latent erliegen.

Möglicherweise entdecken Sie auch völlig neue Seiten an sich, wenn Sie einmal von sich aus einen neuen Schuh anprobieren. Wenn Ihnen dieser gefällt, nur zu, lassen Sie sich nicht bremsen! Viele neugierige und ambitionierte Menschen ergreifen unterschiedliche Rollen exakt in diesem Sinne. Sie schauen, welches Schuhangebot ihnen das Leben bietet, um in einem bewusst gewählten neuen Schuh die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit auszuleben.

 

Quellen:

[1]     Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. München/Zürich 1974, S. 144.

[2]     Ebenda, S. 59.

 

Informationen zum Buch:

Autor: Andreas Lorenz

Wenn der Schuh passt, dann läuft es. Souverän in jeder Rolle


156 Seiten
ISBN 978-3-902752-71-0
EUR 19,–