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We want it loud: So überzeugen auch leise Menschen

Sind Extrovertierte wirklich die besseren Schüler, Bürger, Mitarbeiter und Führungskräfte? Nein! Introvertierte haben ihre eigenen Stärken.
Christiane Wolf | 18.11.2013
"It makes sense that so many introverts hide even from themselves. We live with a value system that I call the Extrovert Ideal – the omnipresent belief that the ideal self is gregarious, alpha, and comfortable in the spotlight."
Susan Cain (Autorin zum Thema Introversion)

Aktuell kursieren im englischsprachigen Raum und zunehmend auch in Deutschland nahezu zahllose Publikationen und Texte im Web über Introvertierte und deren Besonderheiten. Besonders Blogs scheinen eine Form zu sein, die für Introvertierte besonders attraktiv ist! Gemeinsam ist den meisten Texten (vergleiche Literaturverzeichnis oder führen Sie eine aktuellen Google-Suche durch, Sie werden überrascht sein über die Anzahl spannender Links, die Sie erhalten!), dass sie begründet vermuten und diskutieren, dass unsere Gesellschaft Extravertierte deutlich bevorzugt.

Vielleicht trifft dies noch mehr auf die USA als auf Deutschland zu und bestimmt gibt es auch ein Ost-Westgefälle. Indes scheinen viele Menschen, die darüber nachdenken, eine deutliche Tendenz wahrzunehmen. Susan Cain (2012) diskutiert Studien, die zeigen, dass die Mehrzahl der Lehrer denkt, dass Extravertierte die besseren Schüler seien und dass Extravertierte generell besser für Führungspositionen geeignet seien. Zu diesem Punkt waren leider keine weiteren fundierten empirischen Studien zu finden – der Augenschein ist indes deutlich genug.


Augenschein: einige Situationen
Lassen Sie uns alltägliche und vertraute Situationen aus dieser Perspektive betrachten:
Bewerbungsgespräche

Es wird gefordert und erwartet, dass man kommunikativ sei, keine Scheu vor dem Gesprächspartner habe und eben bereitwillig rede. Introvertierte, ruhige Menschen mögen bitte an sich arbeiten, damit sie engagiert, zielstrebig und teamfähig erscheinen. Solche und ähnliche Formulierungen findet man zuhauf. In Assessment-Centers werden häufig Fähigkeiten in Übungen gefordert und beobachtet, die eng mit der Intensität der Beteiligung an Gruppenprozessen zusammenhängen, oder, einfacher gesagt, mit der Anzahl an Worten, die abgesondert werden. Das mag nicht so deutlich geäußert werden, implizit steckt diese einfache Idee jedoch in den meisten Fällen dahinter.

Auswahl von Mitarbeitern, zum Beispiel studentischer Hilfskräfte: Für Studenten werden finanziell und inhaltlich recht attraktive Jobs angeboten, deren Einnahmen das studentische Leben deutlich einfacher machen. Was glauben Sie, welche Studenten in der Regel angesprochen werden? Diejenigen, die in Lehrveranstaltungen sichtbar und hörbar sind, häufig nur mit lockerem Zusammenhang der Qualität der Beiträge zu deren Quantität. Dies gilt ähnlich für Aufstiegschancen in anderen Bereichen.

Meetings

Besprechungen sind ohnehin für leise Menschen eine eher missliebige Situation. In Meetings werden die lauten Teilnehmer, die früh mehr oder weniger durchdachte Beiträge leisten, allzu häufig mehr gehört als die leisen Teilnehmer und auf deren Umgang mit Zeit wird oft wenig Rücksicht genommen, was Vorbereitung, Beiträge, Durchdenken und Ergebnisfindung betrifft. Laute Beiträge jedoch dämpfen die Effizienzbilanz von Meetings in der Wahrnehmung der Introvertierten, wenn die Beiträge eher dem Durchdenken dienen, als dass sie schon durchdacht sind.

Bürgerinitiativen

Bürgerinitiativen leben auch davon, dass sich Menschen engagieren und ihre Stimme erheben für ein Anliegen, das ihnen wichtig erscheint. Häufig ist die erhobene Stimme auch wörtlich zu verstehen und das Engagement von leiseren Menschen könnte dadurch erschwert sein.

Politik
Bei Duellen vor wichtigen Wahlen (Bundestagswahl in Deutschland, Präsidentschaftswahl in USA) ist die Redezeit pro Kandidat und Thema festgelegt. Die Redezeit wird also offenbar als ein wichtiger Parameter gesehen – das ist eine ulkige Vorstellung aus Sicht des Introvertierten, wird aber allgemein akzeptiert. Die Gleichheit ist hier selbstverständlich der richtige Gedanke im Sinne der Fairness – es ist indes amüsant, dass ausgerechnet die Redezeit der (einzige) relevante Parameter ist.

Wen wundert es da noch, dass Introvertierte oft Extravertierte bewundern und versuchen, gegen ihre Präferenz und ihr innerstes Selbst und ihre Stärken zu handeln?

Soziale Normen, die eigentlich für Extravertierte gemacht sind und gut passen, lauern überall. Ich kämpfe zum Beispiel seit Jahren gegen die Voreinstellung, dass nur derjenige Mitarbeiter ein gutes Teammitglied sei, der bei mehrtägigen Tagungen im Industriekontext allabendlich bis zum Ende der (verordneten und gemeinschaftlich zu besuchenden) Nahrungsaufnahme- und Unterhaltungsveranstaltungen fröhlich durchhält und möglicherweise auch angemessen den geistigen Getränken zuspricht.

Das ist jedoch besonders für introvertierte Mitarbeiter extrem energiezehrend. Müsste ein gutes Team nicht die unterschiedlichen Präferenzen der Mitglieder so gut wie möglich in Einklang zu bringen versuchen? Wie soll ein Introvertierter am nächsten Morgen fit genug für weitere Großtaten im nächsten Meeting, die meist aus konzentriertem Zuhören bestehen, sein und die Dinge mit gewohnter Konzentration und Gründlichkeit betrachten? Ein guter Schüler, um den Bereich zu wechseln, ist der, der gut mitarbeitet. Zumindest zu meiner Schulzeit hieß Mitarbeiten häufig und schnell eine Wortmeldung anzubieten. Das introvertierte Kind wird jedoch meist etwas später als das laute, extravertierte Kind in der Lage und willens sein, eine Antwort zu geben. Dann ist es jedoch zu spät. Wäre es nicht toll, diese wirklich simple Zeitcharakteristik zu nutzen? Wie oft begegnet man in Meetings und Seminaren Menschen, die sich erst ein bisschen später (oft nach der offiziellen Zeit …) zu Wort melden. Oft ist es schade drum. In der Moderation könnte man dieser Unterschiedlichkeit an sich ja gut gerecht werden und so wertschätzend, wertschöpfend und effizient mit den verschiedenen Teilnehmern oder Schülern umgehen.

Soziale Norm zur Extraversion
Die sozialen Normen sind jedoch wahrnehmbar anders. Wenn ich in meiner Arbeit als Beraterin bisweilen mit Unternehmen über Anforderungen für Nachwuchsführungskräfte oder Vertriebsmitarbeiter diskutiere, dann wird häufig Extraversion früh in der Diskussion als eine Anforderung genannt. Das kann ich meist nicht unkommentiert lassen. Dies illustriert diese gesellschaftliche Norm für mich überdeutlich. Extravertiertes Verhalten wird als normal und erwünscht angesehen und die Karrierespiele haben Extraversion nahezu als eine unerlässliche Spielregel, um erfolgreich mitspielen zu können. Die Vorliebe für Introversion wird in etwa so hingenommen wie früher die Vorliebe für das linkshändige Schreiben: Man nimmt das beim Kinde (respektive beim Mitarbeiter) milde missbilligend zur Kenntnis und versucht alsbald umzuerziehen (oder den Mitarbeiter in Richtung Extraversion zu coachen). Ich wünsche mir, dass dieses Buch einen kleinen Beitrag dazu leistet, dass unsere Gesellschaft hier die gleiche Entwicklung durchlaufen wird wie beim Thema ›Schreiben lernen‹.

Ein Wunschtraum für Introvertierte
Introversion wird als normale Anlage angesehen werden und man kann und darf seine Präferenz leben und damit erfolgreich und zufrieden sein. Umerziehungsversuche werden als schädlich und dumm angesehen. Introvertierte haben Stärken, die Extravertierte nicht haben und diese werden wertgeschätzt. Und: Introvertierte stehen selbstbewusst zu sich und ihren Stärken.

Abschließend ein Zitat vom großartigen Dr. Eckart von Hirschhausen (2009): »Extrovertiert sein hängt ganz klar mit Glück zusammen. Man bekommt auch einfach mehr mit von den Extrovertierten als von den stillen Introvertierten. Extrovertierte lernen leichter andere Menschen kennen, und weil soziale Kontakte ein großer Glücksbringer sind, tun sie sich da leichter. Sie können aber auch schneller nerven, wenn sie nie bei sich sind.«

Ich finde, wir Introvertierten könnten diese hier geäußerte Ansicht leicht widerlegen, wenn man denn Glück wirklich messen könnte. Da macht es sich Herr Dr. von Hirschhausen möglicherweise ein bisschen zu leicht. Vielleicht haben Introvertierte nur eine andere Vorstellung von Glück?

Fazit
Das Interesse an Macht ist vollkommen legitim und das Streben nach Macht ein normaler und wichtiger Motivationsanteil. Eine Unterscheidung der Anteile Dominanz und Einfluss liefert sinnvolle Denkanstöße. Während Introvertierte vermutlich an Einfluss genauso interessiert sind wie Extravertierte, könnten sie bezüglich Dominanz aufgrund ihrer Präferenz benachteiligt sein. Umso wichtiger erscheint es, sich über Einfluss und Überzeugen Gedanken zu machen. Unsere Gesellschaft hängt offensichtlich dem Ideal des extravertierten Menschen an. Mein Traum: Dies sollten wir gemeinsam ändern, sodass Introversion eine neue Wertigkeit erfährt und die Ideen des Umerziehens verschwinden.

Reflexionsfragen:
- Wie gehen Sie mit Macht um?
- Welchen Einfluss wünschen Sie sich?
- Wie klären Sie Ihren Einflussanspruch?

Inwieweit ist Ihr Arbeitsumfeld stark auf Extravertierte ausgerichtet und wie können Sie darauf einwirken, dass die Position der Introvertierten im Umfeld etwas günstiger wird?

Die Autorin
Chris Wolf arbeitet als Diplom-Psychologin seit über fünfzehn Jahren in Beratung und Training. Themen aus Marketing, Führung, Verkauf und Kommunikation mit Patienten/Angehörigen sind dabei das Thema. Die eigene Präferenz für Introversion löste das Interesse für das Thema aus und führte zu ihrer großen Expertise über introversionsgerechte Trainingsmethoden und Kommunikationsmittel. www.wandeldrive.de


Mit freundlicher Genehmigung von Business Village Verlag.