Nicht den Stabilitäts- und Wachstumspakt für solide Staatsfinanzen über Bord werfen!
In dieser Erklärung warnt das Präsidium des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte e.V. (bdvb) unter der Leitung von Prof. Dr. Cornelia Scott mit Blick auf die Tagung des Europäischen Rates am 29./30. Oktober 2009 in Brüssel davor, den Stabilitäts- und Wachstumspakt für solide Staatsfinanzen über Bord zu werfen.
Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten wird auf seiner Tagung auch Themen zur Finanz- und Wirtschaftskrise behandeln, die beim letzten Weltfinanzgipfel der G 20 in Pittsburgh nicht zu den Schwerpunktthemen zählten. Der Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte begrüßt ausdrücklich die rechtzeitige Koordinierung unter den EU-Mitgliedstaaten. Damit kann die EU beim nächsten Treffen der G 20 – Finanzminister Anfang November und bei den Folgekonferenzen der Staats- und Regierungschefs in 2010 ihren Einfluß geltend machen, der ihrem Gewicht als global player entspricht. Für den bdvb sind dabei die Exitstrategien aus den Staatsschulden von besonderer Bedeutung.
Dramatische Verschlechterung der Staatsfinanzen
Die Lage der Staatsfinanzen wird sich in diesem und im nächsten Jahr in Deutschland und fast allen EU-Mitgliedstaaten dramatisch verschlechtern als Folge der antizyklischen Reaktionen der Steuer- und Ausgabensysteme auf den scharfen Wachstumseinbruch und auf die massiven fiskalpolitischen Stabilisierungsmaßnahmen, mit denen Finanz- und Wirtschaftssysteme vor einem Kollaps bewahrt wurden. Einige Mitgliedstaaten werden in ihren Haushalten tief rote Zahlen schreiben, die 10 % des BIP übersteigen, wie die Herbstprognose der EU-Kommission in der nächsten Woche erwarten lässt. Es steht außer Zweifel, dass diese explosionsartige Verschlechterung der öffentlichen Finanzen wieder zurückgeführt werden muß, wenn deren längerfristige Tragfähigkeit und die erkennbare Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung nicht gefährdet werden sollen.
Zeitpunkt der Haushaltskonsolidierung
Es stellt sich jedoch die Frage, wann und wie die Regierungen ihre Stabilisierungsmaßnahmen zurücknehmen können, damit ihre Haushalte nicht aus dem Ruder laufen. Der Rat der EU-Finanzminister hat am 20. Oktober beschlossen, spätestens ab 2011 mit der fiskalpolitischen Konsolidierung zu beginnen. Eine rasche Umkehr des expansiven Fiskalkurses würde bei der schwersten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem ökonomischen overkill führen. Eine frühe Formulierung und Ankündigung der Ausstiegsstrategie würde jedoch die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer auf solide Staatsfinanzen stabilisieren.
Der genaue Zeitpunkt für den Beginn der Haushaltskonsolidierung wird von Land zu Land differieren entsprechend der Abweichung des tatsächlichen Wirtschaftswachstums vom Potenzialwachstum und der Konjunkturreagibilität der öffentlichen Haushalte.
Optionen für die Haushaltskonsolidierung
In jedem Fall sollte der Einstieg in den Ausstieg aus den Staatsschulden koordiniert erfolgen, um bei dem engen Konjunkturverbund der europäischen Volkswirtschaften negative spill over- Effekte zu vermeiden. Die Konsolidierung sollte zudem auf der Ausgabenseite ansetzen, da eine ausgabenbasierte Konsolidierung meist von längerer Dauer und wachstumsfreundlich ist. Erhöhungen von Steuern und Sozialabgaben würden dagegen die wirtschaftlichen Leistungsanreize schwächen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit und das Potenzialwachstum negativ beeinflussen. Bei Steuersenkungen ohne Gegenfinanzierung auf der Ausgabenseite werden mögliche Selbstfinanzierungseffekte empirischen Untersuchungen zufolge einen Anstieg des Budgetdefizits nicht bremsen. Die „Reaganomics“ in den USA in den 1980er Jahren haben gezeigt, dass kreditfinanzierte Steuersenkungen nicht zum Ziel führen.
Die Haushaltspolitik der EU-Mitgliedstaaten steht somit vor einer historisch hohen Konsolidierungsaufgabe. Für Deutschland kommt hinzu, dass aufgrund der nunmehr im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse das Haushaltsdefizit in konjunkturbereinigter bzw. struktureller Betrachtung nach jüngsten Schätzungen der Forschungsinstitute jährlich um 0,5 Prozentpunkte abgebaut werden muß, um die Vorgabe eines annähernd strukturellen Budgetausgleichs bis 2016 zu erreichen.
Stabilitätsgerechte Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
Die EU-Finanzminister haben ebenso vereinbart, den Exit aus den Staatsschulden im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durchzuführen. Die EU-Kommission wird dementsprechend in diesem Jahr für 20 der 27 Mitgliedstaaten einschließlich Deutschland das Verfahren zur Vermeidung übermäßiger Haushaltsdefizite einleiten. Bei diesen Mehrheitsverhältnissen im Rat und den bisherigen Erfahrungen mit 10 Jahren Stabilitätspakt sind Zweifel angebracht, ob der gemeinschaftsinterne Anpassungsdruck die Perspektive einer zuverlässigen Haushaltskonsolidierung eröffnet. 2008 überschritten immerhin 11 Mitgliedstaaten den Referenzwert von 3 % des BIP, obwohl bei fast allen diesen Ländern das tatsächliche Wachstum dem Potenzialwachstum entsprach, die Produktionslücke also geschlossen war. Die „guten Zeiten“ wurden offenbar nicht zu einer nachhaltigen Haushaltskonsolidierung genutzt, so dass in 2009 die notwendigen fiskalischen Maßnahmen zur Abfederung der Finanz- und Wirtschaftskrise zu einer Explosion der Haushaltsdefizite in diesen Staaten geführt haben dürften. Manche Mitgliedstaaten konnten nur durch massive finanzielle Unterstützung durch EU und IWF vor dem Staatsbankrott bewahrt werden.
Der präventive Arm des Stabilitätspaktes hat zumindest für diese Länder seine Bewährungsprobe nicht bestanden. Umso wichtiger wird eine stabilitätsgerechte Anwendung der korrektiven Komponente des Paktes zum Abbau der aufgelaufenen Defizite. Die Empfehlungen des Rates zur Defizitkorrektur und die gesetzten Fristen sind nicht als bewegliche Ziele zu verstehen, die sich beliebig variieren lassen. Der Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte fordert die Bundesregierung auf, sich bei den weiteren Beratungen in Brüssel dafür einzusetzen, dass der Pakt weiterhin als Anker für die Haushaltsdisziplin in der EU dient. Die Sondersituation der Finanz- und Wirtschaftskrise darf nicht dazu missbraucht werden, den Pakt nach Geist und Buchstaben auszuhebeln.
Respektierung der ökonomischen Ratio
Der bdvb begrüßt nachdrücklich den engen Schulterschluss zwischen den EU-Mitgliedstaaten bei den „Aufräumarbeiten“ der Finanzkrise in der Realwirtschaft. Bereits bei den Beschlüssen zur Reform des Finanzsystems hat die EU erfolgreich ihre Positionen und Interessen einbringen können. Dies muß nach Ansicht des bdvb auch bei der Durchsetzung von Haushaltsdisziplin auf weltweiter Ebene versucht werden. Den Lackmustest der finanzpolitischen Koordinierung zwischen den 27 Mitgliedstaaten haben die Regierungen allerdings noch zu bestehen. In diesem Zusammenhang erinnert der bdvb an ein Zitat von Hans Barbier, dem Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung: „Was ökonomisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein und auch nie richtig werden“. Die ökonomische Ratio darf bei allem Mut für weitreichende politische Entscheidungen nicht auf der Strecke bleiben.
bdvb (www.bdvb.de)
Der unabhängige Bundesverband Deutscher Volks- und Betriebswirte e. V. vertritt seit 108 Jahren die Interessen von Wirtschaftswissenschaftlern. Er sieht es als seine Aufgabe an, in der Öffentlichkeit das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge zu fördern. Insbesondere steht er seinen Mitgliedern in Studium, Beruf, Weiterbildung und bei der Karriere hilfreich zur Seite. Dem Netzwerk für Ökonomen gehören bundesweit rund 12.000 Mitglieder an.
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