Vertrauen in Europas Start-up-Sektor sinkt auf historischen Tiefststand
Der European Venture Sentiment Index (EVSI) wird von Venionaire Capital gemeinsam mit Netzwerkpartnern wie EY, dem European Super Angels Club (ESAC) sowie mehreren internationalen Angel-Organisationen seit Q1 2020 quartalsweise erhoben. Dabei werden über 4.000 Risikoinvestor:innen aus den Bereichen Business Angels, Venture Capital und Family Offices in ganz Europa zu ihrer Markteinschätzung befragt. Noch im Q4 2022 erwarteten die Expert:innen, dass sich die Wirtschaft im Q1 2023 stabilisieren und im zweiten Halbjahr 2023 verbessern würdet. Die Realität offenbart jedoch ein anderes Bild.
Noch nie lag die Vorhersage der Expert:innen hinsichtlich des Sentiment Index so weit entfernt vom Hier und Jetzt. Niedrige Bewertungen, schwierige Finanzierungen und ein deutlicher Nachfrageüberhang zu vorhandenem Risikokapital gefährden Unternehmen und setzen die Innovationskraft der letzten 5 bis 10 Jahre aufs Spiel. Drei makroökonomische Ereignisse tragen maßgeblich Schuld an der anhaltenden Erschütterung der europäischen Wirtschaft und der daraus resultierenden Negativüberraschung am Markt: Der Krieg in der Ukraine, die steigende Inflation und die Energiekrise.
EZB: Monetärpolitische Maßnahmen verfehlen ihr Ziel
Trotz der Anzeichen für eine Erholung im vierten Quartal 2022 sah sich der Venture-Capital-Markt im ersten Quartal 2023 mit einer Bankenkrise konfrontiert, von der mehrere Institute betroffen waren, darunter die wichtige Silicon Valley Bank und Credit Suisse. Obwohl die jüngste Bankenkrise ihren Anfang in den USA nahm, hatte sie starke Auswirkungen auf das europäische Risikokapital-Ökosystem. Viele Venture-Capital-Unternehmen und Start-ups hielten ihre Einlagen bei den angeschlagenen Banken. Deren Zusammenbruch hat das Vertrauen in den Risikokapitalmarkt in Europa erheblich erschüttert.
"Im jüngsten Beobachtungszeitraum sehen wir bei den Investoren eine Tendenz zum 'Cherry Picking'. Investoren konzentrieren sich aufgrund des geringeren Kapitalangebots im Markt eher auf die Unterstützung ihrer bestehenden Portfoliounternehmen als auf die Suche nach neuen Investments", erklärt CEO und Managing Partner von Venionaire Capital, Berthold Baurek-Karlic. "Der Fokus liegt also weniger darauf, neue Erträge zu schaffen. Vielmehr ringen alle um Schadenskontrolle. Dies entzieht dem Markt Liquidität und es gewinnen nur jene, die bereits die stärksten Investoren an Bord haben."
Es wurde erwartet, dass der europäische Start-up-Ökosystem im ersten Quartal 2023 zu einer Erholung ansetzen würde. Nachdem jedoch die EZB das historisch schnellste aufeinanderfolgende Anheben von Leitzinsen fortgesetzt hat, gefolgt von den Zusammenbrüchen von SVB, Silvergate und Credit Suisse, wurde deutlich, dass sogar der etablierte Bankenmarkt in Schieflage geraten ist. Die Ursache für diese Schieflage ist nicht etwa im Risiko des Innovations- oder Technologiesektors behaftet. Vielmehr ist sie durch einen Sekundäreffekt der allgemeinen Notlage der Wirtschaft besonders schwer betroffen.
Stimmung am Markt erreicht ein Rekordtief
Die Mehrheit der befragten Expert:innen ist der Meinung, dass der aktuelle Stand in diesem Quartal der Tiefpunkt für 2023 darstellen wird. Im ersten Quartal 2023 hat sich der negative Trend fortgesetzt, was zu einem fünften Rückgang des Index in Folge von 4,3 im vierten Quartal 2022 auf 4,1 im ersten Quartal 2023 führt. Der tatsächliche Indexwert von 4,1 unterscheidet sich erheblich von der Prognose für Q1 2023 (gemessen in Q4 2022), die einen neutralen Wert von 5,0 vorsah.
Die Anleger haben ihre Erwartungen für Q2 2023 im Vergleich zur Erwartung für das erste Quartal 2023 zurückgeschraubt. Steigende Leitzinsen und die Bankenkrise haben die europäischen Bemühungen um eine Wiederbelebung der Kapitalmärkte zunichte gemacht. Im aktuellen Quartal gab es Rückgänge in allen Faktoren des Index, was zu einem Rückgang des Gesamtinvestitionsvolumens, der Gesamtzahl der Deals und der durchschnittlichen Deal-Größe auf dem europäischen VC-Markt führte. Die Investorenerwartung für Q2 liegt aktuell deutlich näher am neutralen Terrain des Sentiment Index. Diese Vorhersage scheint auf den ersten Blick positiv, muss aber mit Vorsicht genossen werden, da Investoren in Negativmärkten zu einer Überbewertung und zu einer Unterbewertung von Positivmärkten tendieren. Kurz gesagt: Wenn es am Markt richtig schlecht läuft, erwartet und erhofft man baldige Besserung wohingegen man bei positiven Phasen meist davon ausgeht, dass diese nie lange anhalten können und werden.
Ein (kleines) Licht am Ende des Tunnels?
"Obwohl die tatsächlichen Ergebnisse des laufenden Quartals die schwächsten seit Bestehen des Index sind und die Aussichten für das folgende Quartal sich dem neutralen Terrain nur annähern, gehen wir davon aus, dass in den kommenden Quartalen Verbesserungen eintreten werden", ist Baurek-Karlic vorsichtig optimistisch. Sollte die Erwartung eintreten und sich die Investitionstätigkeit in Europas Venture-Markt stabilisieren, so bliebe man dennoch weiterhin deutlich hinter den Investitionsvolumina der Vorjahre zurück. Für die zweite Jahreshälfte zeigen sich Experten vorsichtig optimistisch, valide Prognosen konnten jedoch zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht getroffen werden.
Ein großes Problem sieht Investmentexperte Baurek-Karlic im Umgang der Politik mit der Krise: "Europaweit vermisse ich starke Initiativen, die den Start-up-Sektor unterstützen und damit auch die Bedeutung dieses Sektors für den gemeinsamen Wirtschaftsraum widerspiegeln. Mit Ausnahme Deutschlands versagen hier alle EU-Länder in ihrer Start-up-Politik!"