Die letzte Versorgungslücke
Autoren: Christian Wied, IBM Account Manager Cloud Software - Industrial Clients, Dr. Stephan Rinck, Business Development Executive, IBM Technology Group
Moderne Technik in der Landwirtschaft? Keine Frage, sondern Tatsache. Schon vor dem großen Hype der IoT-Technologien und lange bevor die Automobilindustrie erste Assistenzsysteme in Richtung autonomes Fahren produktiv im Einsatz hatte, gab es in der Landwirtschaft bereits autonom fahrende Landmaschinen, weitestgehend vollautomatisierte Weiterverarbeitungsprozesse auf dem Hof und erste Versuche, das Wohlbefinden der Tiere zu erfassen. Tiere werden über Funktechnologien eineindeutig identifiziert, „melden sich“ durch Annäherung an die automatisierten Futtertröge an und bekommen genau das für sie bestimmte Futter. Da jedoch ein sehr großer Teil landwirtschaftlicher Daten auf den Feldern anfällt (zunehmende Online-Anbindung der Landmaschinen) und die Notwendigkeit besteht, diese auch vor Ort zu verarbeiten und bei Bedarf weiterzuleiten, ist die 5G-Datenkommunikation der nächste logische und notwendige Schritt. In naher Zukunft wird voraussichtlich jede Milchkanne, jede Kamera, jedes Tier, jedes landwirtschaftliche Gerät sowie die unterschiedlichsten Sensoren auf den Feldern als jeweils eigenständiges IoT-Device in ein digitales Ökosystem der Landwirtschaft eingebunden werden.
Cloud-Technologien spielen bei all diesen Szenarien eine entscheidende Rolle. Nur mit ihnen ist es möglich, all diese Informationen zu verarbeiten, effizient Lösungen zu entwickeln und auszurollen, zu überwachen und fast unendlich zu skalieren. Dementsprechend verdrängen cloudbasierte Softwareangebote auf breiter Front die bisher bewährten Hofprogramme, die Landwirte auf ihrem PC installiert haben. Die Cloud ermöglicht sowohl die Mensch-zu-Maschine- als auch die Maschine-zu-Maschine-Interaktion auf dem Hof sowie jegliche Kommunikation nach außen. Doch was passiert, wenn genau diese Cloudumgebung nicht mehr erreichbar ist, z.B. durch die noch immer sehr großen Versorgungslücken beim Mobilfunk in Deutschland? Befindet man sich an einer Mobilfunk-Randzone ist eine sichere Verbindung nicht gegeben. Dazu kommen Stromausfälle, Ausfälle einzelner Sektoren der Mobilfunknetze und die stark steigende Anzahl von Cyberattacken.
Warum ist die Internetverbindung für die Landwirtschaft so essentiell?
Lassen Sie uns auf zwei Aspekte bei der pflanzlichen Produktion eingehen: 1.) Das Produktions- und Lieferkettenmanagement und 2.) den Umwelt- und Klimaschutz (Green-Deal).
1. Regionales Produktions- und Lieferkettenmanagement
Die Komplexität der Pflanzenproduktion ist von der Natur vorgegeben – entsprechend stehen die Akteure, vom Hobbylandwirt bis zum Großbetrieb vor vergleichbaren Herausforderungen. Neben Marktrisiken kämpfen die landwirtschaftlichen Erzeuger vor allem mit Unsicherheiten des Wetters sowie einem unkalkulierbaren Krankheits- und Schädlingsbefall. Zunehmende Auflagen des Umwelt- und Klimaschutzes erhöhen die Managementanforderungen bei allen Landwirten gleichermaßen.
Die Rahmenbedingungen für kleinere und große Betriebe (Tab. 1; nur ca. 1/3 sind Großbetriebe) unterscheiden sich insbesondere bei der Maschinen- und IT-Ausstattung. Da im Gegensatz zu den Großbetrieben die Mehrheit der kleineren Betriebe in bestimmten Regionen nur bedingt über eine Eigenmechanisierung verfügen, sind diese zur Durchführung von Anbau, Ernte und Logistik mehr oder weniger von Dritten abhängig. D.h. sie müssen sich Maschinen- und Logistikdienstleistungen fristgerecht einkaufen. In Regionen mit eher kleinstrukturierter Landwirtschaft haben sich mit landwirtschaftlichen Lohnunternehmen und Maschinenringen entsprechende Strukturen für den überbetrieblichen Maschineneinsatz etabliert.
Die Innovationen des Smart Farming als Teil der digitalen Transformation in der Landwirtschaft sind primär auf Großbetriebe mit Eigenmechanisierung fokussiert. Entsprechend sind die Cloudplattformen der Farmmanagementinformationssysteme meist an einen oder ein Konsortium an Landtechnikherstellern angepasst. Dies ist nachvollziehbar, da oftmals das Management von Maschinenflotten im Rahmen pflanzenbaulicher Produktionsprozesse im Vordergrund steht.
Die Akzeptanz von IT-Plattformen mit einer rein cloudbasierten Datenhaltung ist bei Landwirten noch verhalten, da Bedenken bezüglich der Datenhoheit vorherrschen. Zudem entspricht die Präferenz bestimmter Maschinenflotten bei den konkurrierenden IT-Plattformen nicht den Anforderungen der kleineren landwirtschaftlichen Betriebe, die auf ihren Flächen Dienstleister mit den unterschiedlichsten Maschinenflotten zum Einsatz bringen. Landwirte, die auf einen überbetrieblichen Maschineneinsatz angewiesen sind, benötigen ein herstellerunabhängiges digitales Ökosystem, das insbesondere auf regionaler Ebene möglichst viele Akteure vernetzt.
An diesem Trend wird deutlich, dass die Internetabhängigkeit bei der Digitalisierung im Agrarsektor die Vulnerabilität der landwirtschaftlichen Primärproduktion deutlich erhöht, die ein essentieller Bestandteil der Kritischen Infrastruktur (KRITIS) „Ernährung“ ist. Die Datenauslagerung in die Cloud, die damit verknüpfte Internetabhängigkeit von Maschinen und Produktionsprozessen und insbesondere ein Ausfall der IP-basierten Telefonie und Datenkommunikation könnte bei einem längerfristigen Internetausfall die Ernährungssicherstellung erheblich tangieren.
2. IoT-Sensornetze für Umwelt- und Klimaschutz
Ein längerfristiger Ausfall der Sprach- und Datenkommunikationsnetze ist gerade für Regionen mit kleinteiliger und überwiegend arbeitsteilig strukturierter Landwirtschaft ein großes Risiko. Da für moderne IoT-Sensornetze im Rahmen des Smart Farming in naher Zukunft zunehmend lokale LoRaWAN-Netze eingesetzt werden, wäre es eine gesellschaftlich relevante Option, diese resiliente Vernetzung im Bedarfs- und Krisenfall auch für eine Notkommunikation im ländlichen Raum zu nutzen. Durch den Einsatz von batteriebetriebenen LoRaWAN-Netzen kann der Landwirt selbst dann über einen gewissen Zeitraum alle notwendigen (Sensor-)Daten zur Fortführung seines Betriebs erhalten. Voraussetzung ist jedoch ein möglichst flächendeckender Ausbau solcher Netze, was sich durch eine intensivere Nutzung darüber gewonnener IoT-Sensordaten forcieren ließe. Da die Landwirtschaft einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten muss, könnte die flächendeckende Gewinnung umweltrelevanter IoT-Sensordaten (z.B. Bodenfeuchte und -temperatur) eine Leistung darstellen, die als Open Data-Angebot nicht nur zur Stärkung der Klima-Resilienz herangezogen werden könnte, sondern kurzfristig sogar einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen in den unterschiedlichsten Branchen (z.B. Glatteiswarnung) erzeugen würde. Impulsgeber für den Aufbau einer derartigen IoT-Infrastruktur mit Blick auf den Umwelt- und Klimaschutz könnte beispielsweise die EU mit ihren Programmen zur Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und dem Green Deal sein.
Operationalisierung eines Resilient Edge Computing (REC) in der Landwirtschaft
Das Problem der Internetabhängigkeit der landwirtschaftlichen Primärproduktion im Rahmen der KRITIS „Ernährung“ hat die Politik in Deutschland erkannt und erste Schritte zum Abbau der Vulnerabilität eingeleitet. Zumal diese in den Kritischen Infrastrukturen durch die digitale Transformation nicht erhöht werden darf. Sowohl das Ernährungssicherstellungs- und -vorsorgegesetz (ESVG) als auch das IT-Sicherheitsgesetz (IT-SIG) geben Direktiven für prophylaktische Maßnahmen im Bereich der KRITIS „Ernährung“. Entsprechend fördert das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aus Vorsorgegründen und mit Zustimmung der Agrarministerkonferenz in Deutschland die Entwicklung einer Infrastruktur zur dezentralen Datenhaltung und regionalen Vernetzung in der Landwirtschaft. Flankierend unterstützt das BMEL den Praxistransfer der resilienten GeoBox-Infrastruktur durch das Experimentierfeld Südwest in Rheinland-Pfalz. „Durch unseren Vernetzungsansatz entwickeln wir mit der GeoBox-Infrastruktur ein mehrdimensionales digitales Ökosystem. So haben wir derzeit ein Netzwerk über das Projekt GeoBox, über die Experimentierfelder „Digitalisierung in der Landwirtschaft“ des Bundes und über die Forschungsbegleitung KlimAgrar. Des Weiteren gibt es länderübergreifende Kooperationen, wie beispielsweise über das Kompetenznetzwerk West, ein Verbund mehrerer Bundesländer, die gemeinsam die Einführung der Geobox-Infrastruktur in die Praxis vorantreiben. Dieses Konzept bezeichnen wir weitergehend als resilientes Smart Farming (RSF).“, erklärt Daniel Eberz-Eder vom DLR Rheinhessen-Nahe-Hunsrück, Koordinator der Projekte zur Digitalisierung in der Landwirtschaft.
Resilienz und Daseinsvorsorge setzen regional verankerte IT-Infrastrukturen voraus
Um auf regionaler Landkreisebene Tausende von Edge Devices (Hofboxen) einschließlich IoT-Sensoren zu unterstützen, die individuell von Landwirten unter deren Datenhoheit betrieben werden, wurde in öffentlich-privater Partnerschaft exemplarisch ein Resilient Edge Computing (REC) installiert. Hintergrund der regionalen Vernetzung auf Landkreisebene liefert das ESVG, das besagt, dass Landräte – vergleichbar zur Pandemie - in Krisenfällen sowohl die landwirtschaftliche Produktion als auch die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln auf regionaler Ebene koordinieren müssen. Am Beispiel der Pilotregion Donnersberg soll im BMEL-Projekt AgriRegio das Modell einer „digitalen Resilienz as a Service (dRaaS)“ in öffentlich-privater Partnerschaft weiterentwickelt und erprobt werden. Für die Krisentauglichkeit des Systems müssen sich möglichst viele landwirtschaftliche Betriebe freiwillig an das Resilient Edge Computing anschließen. Deshalb legt Landrat Rainer Guth besonderen Wert auf den direkt greifbaren Nutzen dieser resilienten Digitalisierung, der sich insbesondere darin ausdrückt, dass Landwirte auch in kleinteilig strukturierten Regionen vom Smart Farming mit einem anspruchsvollen überbetrieblichen Maschineneinsatz profitieren und so die betriebliche und regionale Wertschöpfung sichern können. „Und die zusammenzubringen mit einer Technik, die am Hof verortet ist, die von jedem bedient werden kann und die im Grunde den Nutzen für alle bringt, Daten auszutauschen und zu benchmarken und sich zu helfen, aber auch zu kommunizieren im Krisenfall, ich glaube das ist der Weg,“ unterstützt Guth das Projekt.
Damit wird das Resilient Edge Computing zu einer weiteren und für KRITIS-Branchen zwingenden Ausbaustufe und sehr sinnvollen Ergänzung des Cloud Computings. Dieser Dezentralisierungsansatz dient der Gesellschaft mit einer verbesserten Versorgungssicherheit, der Klima-Resilienz mit flächendeckenden und ausfallsicheren IoT-Sensornetzwerken und schlussendlich aufgrund der im REC inhärent implementierten Datenhoheit der Akzeptanz bei Landwirten, wie Dr. Christian Koch vom Hofgut Neumühle im Donnersbergkreis bestätigt: „Ich sehe den Vorteil darin, dass meine Daten lokal auf der Hofbox gespeichert werden. Stellen Sie sich vor, das Internet fällt in Deutschland aus, dann ist es mir trotzdem noch möglich mit diesem lokalen Datensatz meine Flächen zu dokumentieren und die Flächen auch zukünftig zu bewirtschaften.“
Publikationen:
Daniel Eberz-Eder, Franz Kuntke, Wolfgang Schneider, Christian Reuter (2021) Technologische Umsetzung des Resilient Smart Farming (RSF) durch den Einsatz von Edge-Computing, 41.GIL-Jahrestagung: Informatik in der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft, S. 79-84, Gesellschaft für Informatik.
Christian Reuter, Wolfgang Schneider, Daniel Eberz (2019) Resilient Smart Farming (RSF) – Nutzung digitaler Technologien in krisensicherer Infrastruktur, 39. GIL-Jahrestagung: Informatik in der Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft Fokus; Digitalisierung für landwirtschaftliche Betriebe in kleinstrukturierten Regionen – ein Widerspruch in sich? Lecture Notes in Informatics (LNI), A. Meyer-Aurich (Hrsg.), S. 177-182, Vienna, Austria: Gesellschaft für Informatik