Zeitsouveränität - Arbeiten oder leben?
Jahrzehntelang hat man den Arbeitnehmern Flexibilität verordnet: Zeitintensiv zum Job pendeln, egal wie weit entfernt er liegt, ist besser als keinen zu haben. Am Wochenende bei drohenden Deadlines mal eben ins Büro gehen; ein ausuferndes Überstundenkonto, um dem Wettbewerb ein Schnippchen zu schlagen; vieles schlucken, was die Kehle ätzt. Einsatz, Einsatz! Doch jetzt schwirrt der Kampfruf »Zeitsouveränität« durch die Luft? Neue Technologien machen es möglich.
Die durchschnittliche Arbeitszeit (bei Vollbeschäftigten) stieg in den letzten zehn Jahren auf einundvierzig Stunden. Jeder vierte arbeitet an Sonn- oder Feiertagen, was noch vor kurzer Zeit ein Privileg von Selbstständigen und Freiberuflern war. Und damit nicht genug: Dank drastisch gestiegener Wohn- und Lebenshaltungskosten kommen drei Millionen Deutsche nur über einen oder gar zwei Nebenjobs über die Runden. Und jetzt schwirrt der Kampfruf »Zeitsouveränität« durch die Luft? Der Chef der IG Metall, Detlev Wetzel, nennt ihn »eine Gegenbewegung zur totalen Ökonomisierung des Lebens.«
Die Lebensrealität heute sieht anders aus als in den Siebzigern: In einer sich immer digitaler gerierenden Welt arbeiten wir immer intensiver, wir sind rund um die Uhr digital verfügbar, die Bürostammzeiten wurden fließend. Unsere Aufmerksamkeit schenken wir einem Bündel an Pflichten. Junge Eltern investieren mehr Zeit in Erziehung als in Freizeitvergnügen, wir schlafen weniger, essen schneller, lieben öfters und kürzer, also keinesfalls erfolgreicher; kein Wunder, dass viele von uns vor allem ein Bedürfnis haben: Einmal aus der Zeit auszusteigen. Wie können innovative, agile Arbeitszeitmodelle bei der Jobbesetzung von Unternehmen dazu beitragen, die vielversprechendsten Talente des Arbeitsmarktes wie Karpfen aus dem Fischteich zu »angeln«?
Digitale Technologien machen es möglich, die tägliche Arbeit im räumlichen, zeitlichen und organisationalen Sinne zu entgrenzen. Die Folge: Bisherig gängige und vorgegebene Arbeitsstrukturen, die durch feste Arbeitszeiten und Einsatzorte definiert waren, brechen auf zugunsten einer neuen, flottierenden Offenheit. Der Vorteil: Die Mitarbeiter bestimmen souverän über Arbeitszeiten, Präsenz und Orte, können neue Vereinbarungen mit ihren persönlichen Bindungen (Familie, Freizeit, soziale Verpflichtungen, Engagements) treffen. Die Konsequenz: Unternehmen, die sich im digitalen Transformationsprozess befinden, stehen vor einen vitalen Herausforderung. Einerseits ringen sie intern um neue smarte Arbeitszeitmodelle, die mit dem Geist von New Work vereinbar sind. Gleichzeitig sollten sie tunlichst die immer noch gültigen tariflichen und gesetzlichen Arbeitgeberbestimmungen bedienen. Darüber hinaus müssen sie ihren Betrieb effizient und effektiv am Laufen halten.
Wie wir arbeiten und was wir dabei nachfragen, hat sich innerhalb kurzer Zeitdauer durch die digitale Revolution rasant verändert. Flexible Arbeitsmodelle machen sich gut bei Arbeitsprozessen, die virtuell handelbar sind, zum Beispiel über virtuelle Teams, die über den ganzen Erdball verstreut sind. Die Segnungen des Internet verleihen flexiblen Arbeitsmodellen eine innere Logik. Das atmet für viele eine bislang unbekannte Freiheit. Aber Vorsicht: Wollen wir der Souverän unserer Zeit sein, setzt dies neue Lebensentwürfe voraus. Ebenso fordert eine alternde Gesellschaft ihren Tribut. Lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle ermöglichen den Beschäftigten, ihre Arbeitszeit in bestimmten Lebensabschnitten herunterzufahren, etwa um eine Vereinbarkeit mit Familie, Zweitstudium oder Weiterbildung, Auslandsaufenthalt oder Sabbatical herzustellen. Die im klassischen Sinne erhobene Forderung nach hoher Anwesenheit am Arbeitsplatz (wer nicht da ist, arbeitet nicht und leistet nichts!) wird zugunsten einer Zeitsouveränitätsvereinbarung aufgebrochen. Neue Arbeitszeitmodelle fokussieren Ziel- und Ergebnisvereinbarungen unter gleichzeitig maximaler Arbeitsflexibilität.
Zeitsouveränität: Was zählt ist das Ergebnis und nicht die Anwesenheit
Aber Vorsicht! Die positive Diskussion über neue Arbeitszeitmodelle darf nicht eindimensional ausschließlich aus der Sicht der digitalen Boheme geführt werden. Deren Arbeitswirklichkeit unterscheidet sich doch oft erheblich von den engen Gepflogenheiten und Zwängen, die einen Großteil der Beschäftigten des Landes an ihren Schreibtisch oder ihre Werkbank binden. Auch Start-ups reüssieren nicht ohne einen hohen zeitlichen Einsatz, ohne Überstunden und ideellen Verzichten, von nicht existierender Arbeitsplatzsicherheit und knallharten Abhängigkeiten von einem volatilen Marktgeschehen ganz zu schweigen. Für den, der so in die Pflicht genommen wird, stellt sich die Option eines Arbeitszeitmodells nicht. Führungskräfte und Manager stehen unter vielfachem Druck, nicht zuletzt der hohen Erreichbarkeit und Verfügbarkeit auch außerhalb der üblichen Bürozeiten. Zeitsouveränität und Freizeit sind in solchen beruflichen Konstellationen immer weniger planbar.
Ulrike Hellert (2014) legt den Finger auf die Schwachstelle und stellt anhand unterschiedlicher Arbeitszeitkonzepte fest: Arbeitszeitmodelle von der Stange gibt es nicht. Zeitsouveränität funktioniert nur über individuelle, maßgeschneiderte Lösungen, die unternehmensspezifische und mitarbeiterimmanente Anforderungen berücksichtigen. Eine strukturierte und transparente Vorgehensweise, die die unmittelbare Unternehmenssituation fokussiert, ist unerlässlich. Bleiben hier die Bedürfnisse und Lebensbedingungen der Mitarbeiter unberücksichtigt, verharrt man beim Wollen.
Zeitsouveränität – wie geht das? Sieben Modelle im Vergleich
#1 Die Funktionszeit
Hier gibt es keine Kernzeit oder Anwesenheitspflicht. Mittelpunkt des Modells ist die garantierte Funktionsfähigkeit des Arbeitsbereichs und die präzise definierten Anforderungen, soll heißen: Es muss laufen! Adaptierbar ist es für Bereiche, in denen Mitarbeiter sich gegenseitig vertreten können und Vorgesetzte eine rein moderierende Haltung einnehmen. Die Verantwortung wird auf mehrere Schultern verteilt. Ein Arbeitszeitkonto erfasst und kontrolliert Soll und Haben.
#2 An Ergebnissen orientierte Vertrauensarbeitszeit
Hier geht es um konkret formulierte Ziele und Aufgaben, die unter Verzicht auf feste Arbeitszeiten geleistet sowie planmäßig und erfolgreich erfüllt werden müssen. Unter dem Strich zählen Einsatz, Produktivität und Resultate. Das funktioniert gut in Bereichen, in denen Mitarbeiter einen unterschiedlichen Arbeitsrhythmus und von einander abweichenden Zeitbedarf haben. Die Philosophie dahinter besagt: Die reine Anwesenheit ist kein Indikator für den Grad an Produktivität. Sie stellt ein gutes Modell für Arbeitende dar, denen die Ergebnisse am Herzen liegen und nicht die Länge ihres Aufenthaltes am Arbeitsplatz.
#3 Die Vier-Tage-Woche
Vollzeitjobs erstrecken sich in der Regel auf vierzig Wochenstunden, verteilt auf fünf Tage.Flexibler halten es moderne Unternehmen wie Amazon. Die Vier-Tage-Woche gewährt Arbeitnehmern, die ihre Aufgaben auch in kürzerer Zeit erledigen können, einen zusätzlichen Tag pro Woche frei zu haben. Das stellt sich so dar: Innerhalb einer Zweiunddreißig-Stunden-Woche mit entsprechend angepasstem Gehalt oder im Rahmen einer Vierzig-Stunden-Woche, die ohne Verdiensteinbuße auf vier Tage verteilt werden. Der freie Tag entlastet den Arbeitnehmer und erlaubt zusätzliche Aktivitäten außerhalb des Berufs. Erfahrungen bei Konzernen zeigen, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit auf etwa 80 Prozent bei gleichzeitig voller Bewältigung der Aufgaben bei den Betroffenen keineswegs zu Karriereeinbußen führen muss, eher im Gegenteil. Denn die so entlasteten Mitarbeiter gewinnen mehr Energie und Motivation durch das Gefühl gelebter Selbstverantwortung und Selbstbestimmung.
#4 Homeoffice
Im Homeoffice genießen Mitarbeiter freie Zeiteinteilung und in der Regel ein höheres Maß an Konzentration, weil die büroüblichen Ablenkungen entfallen (kleiner Schwatz in der Teeküche, Störungen, Leerlauf). Kommuniziert wird dennoch intensiv – über Meetings per Telefon, Skype, Videokonferenzen, Google Hangouts oder E-Mail. Das Vertrauensverhältnis ist gegenseitig, ohne Zuverlässigkeit und Transparenz geht hier nichts. Mitarbeiter verantworten selbst, dass sie ihre Deadlines einhalten, die übertragenen Jobs erfolgreich handeln und produktiv arbeiten, auch wenn sie nicht am Arbeitsplatz präsent sind. Wer unter hohem Einsatz von Konzentration und Mentalpower arbeiten muss, profitiert am meisten (wobei nicht ausgeschlossen ist, dass auch im Homeoffice Störenfriede lauern). Es kann, bewusst durchgeführt, eine Win-win-Situation für Unternehmen und Mitarbeiter sein.
#5 Remote Work
Das Modell »Remote Work« geht noch einen guten Schritt weiter als das Homeoffice und bietet 100 Prozent Flexibilität. Die Mitarbeiter sind in virtuelle Teams integriert und arbeiten ausschließlich ohne Office-Präsenzzeit. Empfehlenswert und operabel ist es etwa bei internationalen Kooperationen, wenn Teams an unterschiedlichen Unternehmensstandorten zeit- und ortsungebunden tätig sind. Europa- oder weltweit agierende Unternehmen können auf diese Weise die besten Potenziale vor Ort binden und in virtuellen Arbeitskonstellationen zusammenführen. Die Diversität der Teams ist ein weiterer Vorteil: Sie fördert neue Sichtweisen, Haltungen, Ideen und Ansätze und bündelt die Erfahrungsschätze und Wissensvorkommen aus globaler Sicht.
#6 Coworking
Die flexiblen Arbeitsmodelle Homeoffice und Remote Work zeigen klar, wie stark das jeweilige Arbeitsumfeld auf erfolgreiches und produktives Arbeiten einwirkt. Die Grundidee der Gemeinschaftsbüros, sogenannte Coworking Spaces, setzt auf produktives Arbeiten in einer möglichst freien, entspannten und kreativen Atmosphäre. Und das geht so: Ein Coworking-Space-Anbieter vermietet eingerichtete Einzelarbeitsplätze oder Büroräume auf Jahres-, Tages- oder Monatsbasis. Offene Arbeitsflächen mit Einzel- oder Doppelarbeitsplätzen, Büro- und Meetingräumen, Technik, Teeküche und Toiletten, manchmal auch Terrassen oder Freigeländen oder Eventflächen, fördern den Austausch zwischen unterschiedlichen Branchenvertretern und das Netzwerken in der Community.
#7 Job Sharing
Das flexible Arbeitsmodell Job Sharing, also Arbeitsplatzteilung, fußt auf der Aufteilung eines Vollzeit-Arbeitsplatzes auf mindestens zwei Personen. Unternehmen wie die Deutsche Bahn oder Beiersdorf haben sich bereits dem Job-Sharing-Modell geöffnet. Mittlerweile hat sich Job Sharing in Versionen differenziert: Job Splitting: Zwei oder mehrere Arbeitnehmer teilen sich eine Vollzeitstelle. Sie betreuen sehr ähnliche Aufgabenbereiche und arbeiten unabhängig von einander an unterschiedlichen Tagen. Ihre Aufgaben und Zeitaufteilung organisieren sie gemeinsam. Job Pairing: Job Pairing bindet zwei oder mehr Partner enger aneinander. Auch hier teilen sie sich eine Vollzeitstelle, arbeiten jedoch bei der Erfüllung der gemeinsamen Aufgaben miteinander. Die Sharing-Partner tragen gleiche Verantwortung für gemeinsame Projekte, sorgen für kontinuierliche Abstimmung und treffen gemeinsame Entscheidungen. Dieses Modell funktioniert nur auf der Basis einer reibungslosen, verlässlichen Teamarbeit.