print logo

Das Selbstorganisationsprinzip

In dynamischen Umfeldern zählt Selbstverantwortung und Selbststeuerung. Gerade Führungskräfte müssen in der Unternehmensführung umdenken.
Dennis Lotter | 21.10.2020
Das Selbstorganisationsprinzip © freepik / biancoblue
 

Sie erinnern sich doch an den Hauptmann von Köpenick? Ein gewitzter Schuster mit einer ausgeprägten Affinität zum Militärwesen und zu dessen Hierarchieverständnis schlüpft in eine ausgediente Hauptmannsuniform, rekrutiert eine Handvoll Soldaten, die seine Befugnis nicht hinterfragen und überzeugt den Stadtkämmerer von Köpenick, ihm die Stadtkasse auszuhändigen. Was dieser ohne Gegenwehr auch tut. Fürwahr musterhaft treue Pflichterfüllung gegenüber einem Amts- und Würdenträger, der sich selbst legitimiert durch seinen wilhelminischen Habit (Uniform und Auftreten). Den preußischen Leutnant, sagte bereits Heinrich Mann in seinem Roman Der Untertan (1918), den macht uns so leicht keiner nach. – Kleider (und die entsprechende Haltung) machen eben Leute!

Das deutsche Erziehungswesen folgte lange den Errungenschaften der Aufklärung und des Humanismus. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert und im zwanzigsten Jahrhundert ging Deutschland in Preußen auf. Die Folge: Der Preußische Militarismus prägte lange Zeit auch die Erziehungsmethoden in Deutschland. Disziplin, Gehorsam, Obrigkeitsgläubigkeit, Autorität qua Amt und nicht qua Persönlichkeit und Eignung. Noch heute ist das moderne Ingenieursland Deutschland davon geprägt. »Perfektionismus und Zuverlässigkeit der Erzeugnisse werden im Ausland hoch geschätzt, aber so sein wie wir wollen sie eigentlich nicht«, sagte mir kürzlich ein Deutsch-Brasilianer, der in Sao Paulo aufgewachsen war und dort Geschäfte betreibt. Was fehlt? Eine gewisse Lockerheit, fern von Kontrolldrang und Disziplin? Denken. Handeln. Zwei Paar Stiefel? Nö. Nicht in agilen Organisationen.

Welche Qualität ist für den Unternehmenserfolg entscheidender? Die Zufriedenheit der Mitarbeiter oder die der Kunden? Eine etwas tückische Frage! Schließlich sind es die Kunden, die das Unternehmen zu einem solchen machen. Oder? … grübel, grübel … Sind es nicht die Mitarbeiter, die das Unternehmen überhaupt erst zum Kunden bringen? Heute können sich Unternehmen in ihren Personalentscheidungen nicht mehr hinter veralteten Prinzipien verstecken, wenn sie die frischesten und bissfreudigsten jungen Talente für sich gewinnen wollen. Sie müssen ihnen mehr bieten als materielle Incentives. Sie müssen alte Strukturen lockern. Enge Hierarchien werden als hemmend und nicht mehr zeitgemäß empfunden, eine mangelnde Fehlerkultur blockiert die Freude an Experiment und Invention. Was in agilen Zeiten zählt, ist Selbstverwirklichung.

Was will das Prinzip uns sagen? – Nicht lange fackeln. Handeln.

Dass in der Wirtschaft gerade das hierarchische Modell der Ebenen »Oben« (dem Management obliegt das Denken und die Definition von Zielen, Organisation und Prozessen) und »Unten« (Mitarbeiter führen aus, was ihnen aufgetragen wurde) dominiert, hat historische Ursachen und fußt nicht zuletzt im ursprünglich militaristisch geprägten Verständnis von Gehorsam und Pflichterfüllung gegenüber den Vorgesetzten. Das ist hilfreich bei der Bewältigung von massenhaft produzierten Angeboten, jedoch nicht in Change-Zeiten, in denen vielfach experimentiert und ausgetestet werden muss. In agilen Organisationen und in dynamischen, sich rasant ändernden Parametern funktioniert das tayloristische Prinzip der Trennung zwischen Denken und Handeln, das auf Beharrlichkeit pocht, eher nicht. Die digitale Transformation von Unternehmen stellt einen Paradigmenwechsel dar, der tatsächlich nicht nur Neuerungen bringt. Er erhebt auch den Anspruch, dass Altes schwinden muss.

Das neue Paradigma in der Unternehmensführung lautet »Selbstorganisation und Teilung der Verantwortung«. Gesättigte Märkte verlangen nach Flexibilität, Dezentralisierung und Anpassungsfähigkeit. Schwerfällige Entscheidungswege behindern das Fortkommen. Agilität sichert Effizienz und Überleben. Nicht mehr Kontrolle der Mitarbeiter, sondern Autonomie ist das Gebot der Stunde. Dass wir massive Abwehrreaktionen des Managements erwarten müssen, darauf dürfen Sie wetten. Denn rüttelt hier nicht existenzbedrohende Revolution am Gartenzaun?

Das Prinzip der Selbstorganisation impliziert, dass sich Teams selbst führen und organisieren. Sie strukturieren ihren Arbeitsalltag, tragen Verantwortung und genießen eine hohe Entscheidungsfreiheit. In digitaler Zeit übernehmen sie in Eigenregie die Aufgaben, die üblicherweise Führungskräfte innehatten, stimmen sich mit ihren Kollegen ab und beweisen, dass sich Dinge rasanter umsetzen lassen. Denn Top-down-Anweisungen haben eine lange Vorlaufzeit, oft zu lange, sie können bereits tot sein, wenn sie bei denen ankommen, die sie ausführen sollten. Mitarbeiter, die an der Front stehen, haben ein besseres Händchen für die Belange der Kunden und des Alltagsgeschäfts als diejenigen, die in ihren Elfenbeintürmen über die Essentials des Unternehmenslebens reflektieren.

Verstehen Sie dies jetzt keineswegs abwertend – reine Erfahrungswerte! Selbstorganisation ist explizit pro Führungskräfte gedacht! Vom Alltagsgeschäft entlastet, können sie sich abseits der operativen Fragestellungen wieder den eigentlichen Kernfragen zuwenden – Arbeit am (digitalen) Geschäftsmodell (und nicht im operativen Geschäft), an Strategien, Performance, Ausrichtung, an der großen Linie.

Interessanterweise hat sich bereits in den Achtzigerjahren die US-Armee einer solch gravierend geänderten Denkrichtung gestellt, als sie im Rahmen der »Operation Absolute Agility« das Prinzip Selbstorganisation ausrief. Auf weiter Ebene fand eine Entzerrung von Hierarchien mit Blick auf Selbstorganisation als Erfolgsmoment statt. Die militärische Organisation fand sich auf taktischer Ebene in sogenannten Squads – als kleinste Kampfeinheiten – wieder, die unter dem Dach asymmetrischer Kriegsführung agieren. Seine positiven Wirkungen zeitigte es durch gewachsene Risikobereitschaft, Autonomie und Initiativkraft. Mit dem Internet zog diese Strömung auch in die Unternehmenswelt ein, wo sie mit Blick auf die Unternehmen-Kunden-Wertschöpfungszusammenhänge immer weiter optimiert und fortentwickelt wird.

Das digitale Unternehmen Spotify adoptierte das Prinzip »Selbstorganisation statt Anweisung« und benannte seine kleinsten Organisationseinheiten ebenfalls Squads (autonome, cross-funktionale, maximal achtköpfige Communities, die kurz- und langfristige Ziele sowie die Spotify-Mission bearbeiten und von Anfang bis Ende eines Projekt die Verantwortung tragen), Tribes (inhaltlich verbundene Squad-Untergruppen) und Guilds (Interessengemeinschaften, die Wissensaustausch fördern). Spotify vergleicht sich gerne mit einer Jazz-Band, in der alle Mitglieder autonom sind und sich dennoch aufeinander konzentrieren.

Selbstorganisation muss sich einspielen, denn ohne präzise Vorgaben, Steuerungs- und Kontrollmechanismen durch Führungs- und Handlungszuweisungen herrscht Irritation auf allen Ebenen. Was also braucht es, um eine klassisch geführte Organisation in eine erfolgreich selbstorganisierte zu wandeln?

Gloger und Rösner (2014) beschreiben ihre eigenen Erfahrungen und beschäftigen sich vor allem mit der Frage: Wie können Manager ihre Mitarbeiter zur Selbstorganisation befähigen und gewinnen?

Selbstorganisation ist für die Autoren kein Selbstzweck. Sie verstehen diese als Grundlage für extreme Produktivitätssteigerung und Anpassungsfähigkeit bei allen Arten von Teams. Die Führung von selbstorganisierten Teams basiert nach ihrer Auffassung auf sehr einfachen Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, die wir auch im persönlichen Gebrauch einhalten sollten: Zuhören, mein Gegenüber wahrnehmen, es als ebenbürtig anerkennen und wertschätzen, einfach mal ein »Gut gemacht!« aussprechen, nonverbales Feedback geben, auf Augenhöhe kommunizieren – viel mehr braucht es oft nicht, um Menschen zu motivieren.

Damit Teams in die Lage versetzt werden, selbstorganisiert zu agieren, eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln, müssen Transparenz und Klarheit herrschen: Wer ist wofür verantwortlich? Wer darf welche Entscheidungen treffen?

Ohne Struktur, Regeln, Rahmenbedingungen und Kommunikation funktioniert keine Selbstorganisation. Die Teams benötigen Klarheit, Orientierung und Sicherheit, die Komplexität der Zusammenarbeit muss für sie überschau- und handhabbar sein. Der Rahmen definiert Grenzen, legt Verantwortungsbereiche fest, gibt Arbeitsstrukturen vor, etabliert Meetingregeln, stattet mit Rollen und Funktionen aus und sorgt für die innere und äußere Legitimation.

Das Spannungsfeld zwischen Grenzen und Freiräumen muss transparent und im Idealfall durch ein gemeinsames Commitment manifestierbar sein.

Was bedeutet Selbstorganisation im klassischen Sinne?

Wir ersticken in Pflichten und Aufgaben. Hier nicht den Überblick zu verlieren, bedeutet Negativspannung = Stress. Die eigene Leistungsfähigkeit und das Leistungsvolumen gut beurteilen und eintakten zu können, heißt sich entstressen und dadurch in weniger Zeit noch leistungsfähiger zu werden. Das generiert gute Resultate, Erfolgsmomente, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, und dies wiederum spornt zu Weiterem an. Was ist der Unterschied zum reinen Zeitmanagement? Selbstorganisation geht über Planung hinaus und orientiert sich viel stärker an der Persönlichkeit, die agiert und der Verantwortung übertragen werden soll. Eine Frage der inneren Verpflichtung: Warum setzt eine bestimmte Person das so um, wie sie es tut? Welche intrinsische Führung ist hier am Werk? Was bewirkt den Erfolg gerade dieser Person? Werden Aufgaben schriftlich und mit Deadlines versehen niedergelegt, stellt sich ein Gefühl von vorauseilender Sicherheit und allmählich auch Routine ein. Einfach beginnen und Schritt für Schritt vorgehen, um sich nicht zu überfordern und Effizienz und Kontinuität zu ermöglichen. Ganz auf Zeitmanagement verzichten kann auch Selbstverantwortung nicht. Wer Aufgaben zeitlich über Deadlines einplant und den Zeitaufwand vorgibt, behält den Überblick und konzentriert sich auf das Wesentliche.

Was für den Einzelnen gilt, ist im Unternehmen unerlässlich. Mit Selbstorganisation im Sinne von Entscheidungsfreiheit lassen sich Ziele besser verfolgen, gerade wenn es um die Verbesserung der Kundenorientierung, Servicequalität, der Zusammenarbeit zwischen hierarchischen Ebenen, um Kostenreduzierung oder die Reaktionsfähigkeit hinsichtlich Störungen geht. Eigenverantwortlich arbeitende Mitarbeiter sind für Unternehmen in rasch wechselnden Marktverhältnissen und unter starkem Innovationsdruck eine lohnende Investition. Führungskräfte profitieren von mehr Freiraum für unternehmerische Aufgaben. Zukunftsgewandte Unternehmen fragen sich daher ganz genau:

- Wie reif sind wir für das Prinzip Selbstorganisation?

- In welchen Bereichen unserer Organisation und zur Erfüllung welcher Aufgaben müssen wir agiler werden?

- In welchen Bereichen sollten unsere Mitarbeiterinnen und Teams eine besonders hohe Kompetenz zu Selbstorganisation und Selbstführung erarbeiten?

Frederic Laloux (2015) spricht sich dafür aus, dass Führungskräfte in agilen Unternehmen für den Aufbau einer gegenseitigen Vertrauensbasis Sorge tragen sollten, für Stabilität in Konfliktsituationen. Nachhaltige Selbstorganisation muss etwas aushalten können, damit die Gefahren des »Umkippens« gebannt werden. Wird bereits beim ersten kritischen Gegenwind reflexartig wieder auf den Command-and-Control-Modus zurückgeschaltet, kann sich das Selbstorganisationsprinzip nicht manifestieren. Führungskräfte müssen dies verinnerlichen und vorleben, denn auch bei flachen Hierarchien sind sie diejenigen, die die Unternehmensaussagen vertreten.

Kurzer Methodenüberblick – Selbstorganisation ermöglichen

Wie gut muss der Boden für Selbstorganisation gedüngt sein?

Voraussetzung 1: Die Führungskraft steht in den Startlöchern und ist bereit, am System statt im System zu arbeiten.
Das bedeutet eine Kehrtwende auch im Selbstverständnis der Führungskräfte. Noch sehen viele ihre Kernaufgabe darin, Mitarbeiter anzuleiten, zu steuern und ihre fachliche Arbeitsqualität zu kontrollieren. Kein Wunder, dass deren Arbeitsbelastung im Betriebsalltag hoch ist. Ihnen fehlt (meist neben dem Bewusstsein) auch noch das Potenzial, um an den Rahmenbedingungen für Selbstorganisation und Selbststeuerung zu arbeiten. Wie würde eine gelungene Selbstorganisation aussehen?

- Mitarbeiter kennen das Warum.

- Sie werden gecoacht unterstützt und begleitet.

- Sie sind gut versorgt mit Informationen.

- Sie wissen Bescheid darüber, was Selbstverantwortung für das Unternehmen bedeutet.

Voraussetzung 2: Die Mitarbeiter sind bestens vorbereitet.
Sie haben die Verbesserungschancen erkannt und gelernt, wie Problemanalyse und deren Lösung funktionieren. Ohne diese Ressourcen wären sie überfordert.

Voraussetzung 3: Vertrauen ist besser als Kontrolle.
Der Aufbau einer Vertrauenskultur ist zentral. Sie wirkt hierarchie- und funktionsübergreifend. Führungskräfte müssen sich sicher sein, dass ihre Teams den Anforderungen gerecht werden, bevor sie ihnen Handlungsbefugnisse einräumen. Alle im Team müssen ihren Kollegen ver- und zutrauen können, dass sie die Vereinbarungen einhalten, um interne Konflikte auszuschließen. Im Umkehrschluss müssen die Mitarbeiter und Teams darauf vertrauen können, dass ihre Vorgesetzten ihnen den Rücken stärken und im Falle, etwas verläuft nicht so gut wie geplant, eine vernünftige Fehlerkultur praktizieren. Fehlt dieses Grundvertrauen, werden sie sich bei anspruchsvollen Aufgaben scheuen, neue Wege zu bestreiten oder sich bei jeder Unsicherheit mit dem Vorgesetzten abstimmen wollen. Das wäre kontraproduktiv und bedeutete keine echte Veränderung.

Voraussetzung 4: Die Mitarbeiter sind zu jedem Zeitpunkt umfassend informiert.
Eine Grundvoraussetzung für Selbstorganisation: Mitarbeitern stehen alle Informationen zur Verfügung, die sie für eigenständiges Entscheiden und Verantworten benötigen. Mangelt es den Mitarbeitern und Teams daran, fehlt ihnen die notwendige Grundlage. Sie können nicht entscheiden, welche Schritte und Aufgaben zu erledigen sind, um die übergeordneten Ziele zu erreichen. Sie sind sich auch uneins, wie weit ihre Befugnisse gehen: Bei welchen Problemen und Entscheidungen sollten wir Rücksprache mit unseren Vorgesetzten halten, weil wir fürchten, dass diese Problemlagen mit den Zielsetzungen und der Strategie des Unternehmens kollidieren?