Indianer weinen stumm
Überall wird mit ihnen gearbeitet: Werbung, Verkauf, selbst die Politik hat die Emotionen für sich entdeckt. Erfolgreich ist, wer sein Gegenüber emotional erreicht. Doch wenn es um unsere eigenen Gefühle geht, sind die meisten von uns Analphabeten. Wie passt das zusammen?
Es scheint irgendwie paradox zu sein. Auf der einen Seite wird gepredigt, dass Emotionen wichtig sind und dass sich Menschen durch Emotionen sogar besser von etwas überzeugen lassen, als durch rein rationale Argumentation. Auf der anderen Seite lernen wir so gut wie gar nichts über den Umgang mit unseren eigenen Gefühlen. Emotionale Kompetenz wird von unserer derzeitigen Standard-Ausbildung vollkommen ignoriert. Von Kindesbeinen an wird in Schule und Universität hauptsächlich unser Verstand trainiert. Wir lernen Lesen, Schreiben und Rechnen, wir lernen logisch zu denken, Probleme zu lösen und Schlüsse zu ziehen. Unser Verstand wird während dieser Ausbildung mit jeder Menge Fakten gefüttert. Ein hohes Maß an Intelligenz wird belohnt und wertgeschätzt. Aber Gefühle? Fehlanzeige!
Gesellschaftliche Konditionierung in Sachen Gefühle
Die einzige „Ausbildung“, die wir in Sachen Gefühle erhalten, erfolgt durch gesellschaftliche und familiäre Konditionierung. Wir übernehmen in jungen Jahren einfach das, was gesellschaftlich als schicklich und angemessen gilt, was wir in unserer Familie beobachten oder gesagt bekommen. Oder wir ziehen unsere Schlüsse aus schmerzlichen Erfahrungen, die wir mit unseren eigenen Gefühlen oder den Gefühlen anderer gemacht haben.
Dieses unausgesprochene, aber überall beobachtbare soziale Paradigma in Bezug auf Gefühle lässt sich ungefähr folgendermaßen zusammenfassen: Gefühle sind Privatsache. Gefühle öffentlich zu zeigen, gilt als unprofessionell (eine der wenigen Ausnahmen ist das Fußballstadion). Gefühle machen uns schwach und manipulierbar. Gefühle sind kindisch, irrational, launisch und nicht vertrauenswürdig. Wut, Angst und Traurigkeit sind negative Emotionen, die vermieden werden müssen. Erwachsen sein heißt, sich und seine Gefühle im Griff zu haben. Diese negative kollektive Prägung spiegelt sich auch in unserer Sprache wider: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Männer weinen nicht“, „Heulsuse“, „Angsthase“, „Wer schreit hat Unrecht“, „Angst ist ein schlechter Berater“ – um nur einige bekannte Redensarten oder Schimpfworte als Beispiele zu nennen. Das ist die Lektion, die wir alle in Bezug auf Gefühle gelernt haben.
Gefühls-Taubheit als kollektives Massenphänomen
Das Resultat dieser gesellschaftlichen Konditionierung ist, dass wir sehr früh lernen, unsere Gefühle zu unterdrücken und wegzupacken. Allerdings verschwinden Gefühle nicht einfach, indem wir sie unterdrücken. Denn Gefühle sind kein Designfehler der Schöpfung, sondern ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Wesens. Also unterdrücken wir Gefühle nicht nur, sondern machen uns selbst taub gegenüber unseren Gefühlen.
Und unsere Kultur unterstützt uns tatkräftig dabei mit allerlei Angeboten, die wir als Betäubungsmittel nutzen können, um nichts mehr zu fühlen. Wir stürzen uns in Arbeit, futtern unsere Gefühle einfach mit Süßkram weg, lassen uns vom Fernseher oder dem Radiogerät durchgehend beschallen oder lenken uns mit Internet, Computerspielen oder Social Media Kontakten ab. Vertreter des New Age versuchen auch mit positivem Denken oder Meditation ihren Gefühlen zu entkommen. Im schlimmsten Falle hilft auch ein Gläschen Alkohol oder eine Zigarette. Unser Umgang mit Gefühlen kann sich auf diese Weise aber nicht weiterentwickeln und bleibt somit in den Kinderschuhen stecken. Wir verbannen unsere Gefühlswelt komplett ins Unbewusste.
Unbewusstheit macht manipulierbar
Und dort liegen sie dann, unsere Gefühle, und gären vor sich hin – unbewusst und dennoch vorhanden und voll wirksam. Und vor allem auch: voll zugänglich für Manipulationsversuche von außen. Die anfänglich erwähnte Paradoxie ist in Wirklichkeit nämlich überhaupt kein Widerspruch. Dass Emotionen in der Werbung, im Verkauf, in den Medien, in der Politik etc. ein nützliches und wirksames Instrument sind, liegt nämlich genau in der Tatsache begründet, dass wir unsere Gefühle unbewusst ausleben und keinen bewussten Zugang dazu haben. Denn wenn wir uns über unsere Gefühle nicht bewusst sind, macht uns das zu leichten Opfern für emotionale Manipulation. In diesem Falle machen sich die genannten Institutionen einfach nur den Umstand zunutze, dass wir unsere Gefühle verdrängt haben. Sie sind dennoch vorhanden und wenn sie auf die richtige Weise angesprochen werden, motivieren unsere unbewussten Gefühle uns dazu, bestimmte Produkte zu kaufen, uns einer bestimmten Meinung anzuschließen oder eine bestimmte Partei zu wählen. Wir reagieren aus unbewussten Gefühlsprogrammen heraus, ohne eine echte Wahl zu haben. Wie praktisch für die Wirtschaft und die Politik!
Wenn du dir die Werbung mal unter diesem Gesichtspunkt anschaust, wirst du schnell feststellen, dass die meisten Spots auf unbewusste Ängste abzielen: die Angst, krank zu werden, Karies zu bekommen, einen Unfall zu erleben, nicht dazu zu gehören, alt und gebrechlich zu werden, etwas zu verpassen. Das gleiche gilt für die Wahlwerbung der Parteien. Hier ist es dann eben die Angst, den Job zu verlieren, weniger Geld zur Verfügung zu haben, von Fremden überrannt zu werden oder überhaupt keine Zukunft mehr zu haben.
Ein neues Paradigma
Das Zauberwort heißt Bewusstheit. Denn dort wo Bewusstheit herrscht, hat Manipulation keine Chance. Und die Möglichkeit der emotionalen Manipulation von außen ist nicht das einzige Problem, das sich aus der kulturell gepflegten Gefühls-Taubheit ergibt. Es gibt noch zahlreiche weitere negative Auswirkungen. Unterdrückte Gefühle können sich beispielsweise in körperlichen Symptomen, wie Bluthochdruck, Verdauungsbeschwerden, nächtlichem Zähneknirschen, Kopfschmerzen oder Herzbeschwerden Ausdruck verleihen. Der unbewusste und „kindliche“ Umgang mit unseren Gefühlen belastet nicht selten unsere Beziehungen – egal ob privat oder im Beruf. Aber auch bei vielen psychischen Symptomen, wie Angstattacken, Depressionen, unkontrollierbaren Wutanfällen oder dem Burnout Syndrom spielen unterdrückte Emotionen oft eine wesentliche Rolle.
Was uns fehlt, ist eine Ausbildung im Umgang mit Gefühlen. Doch solange wir die kollektive Geschichte aufrechterhalten, dass Gefühle negativ und unprofessionell sind, gibt es in unserer Gesellschaft keinen Grund, um sich mit dem Thema zu befassen. Ausgangspunkt muss also ein neues Paradigma, eine neue Haltung in Bezug auf Gefühle und Emotionen sein. Gefühle sind nämlich eine unglaublich nützliche menschliche Ressource. Wenn wir lernen, sie bewusst zu fühlen und verantwortlich mit ihnen umzugehen, dienen Gefühle uns als Navigationssystem und Kraftquelle. Sie geben uns nützliche Informationen und Handlungsimpulse. Sie versorgen uns mit Motivation und Kraft, Dinge in Bewegung zu bringen und umzusetzen und auch andere davon zu begeistern. Gefühle machen uns menschlich, verbinden uns und lassen uns mitfühlen – um nur einige Aspekte zu nennen.
Erwachsene Gefühle
Ausgehend von diesem neuen Paradigma gilt es dann, im ersten Schritt wieder fühlen zu lernen, d.h. unsere Gefühlswelt aus dem Exil des Unbewussten zu befreien und wieder einen bewussten Zugang zu dieser Ressource zu schaffen. Dazu gehört auch, dass wir uns unserer emotionalen Konditionierungen gewahr werden und dafür sorgen, dass emotionale Verletzungen, die wir in der Vergangenheit erlitten haben, heilen können. Im zweiten Schritt geht es dann darum, einen erwachsenen Umgang mit Gefühlen zu erlernen: Was fühle ich gerade? Welche Information gibt mir dieses Gefühl? Wozu kann ich diese Information und Kraft nutzen? Denn gemäß dem neuen Paradigma bedeutet Erwachsen sein eben nicht, sich und seine Gefühle im Griff zu haben – im Sinne von „Indianer weinen stumm“. Es bedeutet stattdessen, sich seiner Gefühle jederzeit bewusst zu sein und sie verantwortlich für das eigene Leben zu nutzen, egal ob im privaten oder im beruflichen Bereich.
Und so nimmst du deine Gefühle wieder wahr:
#1 – Innehalten und Zentrieren
Die emotionale Reaktion auf einen Reiz erfolgt in Sekundenschnelle. Bevor wir uns bewusstwerden, dass wir etwas fühlen, hat unser Verstand schon mehrere Geschichten dazu gestrickt. Hier hilft es, kurz innezuhalten und bewusst deine Aufmerksamkeit weg von den Gedanken hin zum physischen Köper zu lenken. Denn Fühlen passiert im Körper, nicht im Verstand!
#2 – Gefühl einordnen
Dann frage dich selbst: „Was fühle ich gerade und warum?“ Entgegen der verbreiteten Meinung, dass es unendlich viele Gefühle gibt, kannst du die meisten Gefühle auf 4 Grundgefühle zurückführen: Wut, Traurigkeit, Angst und Freude.
#3 – Das Gefühl bewusst fühlen
Du wirst feststellen, dass deine Konditionierung dich dazu bringen will, dich schnell wieder in den Griff zu bekommen und zurück in den Verstand zu gehen. Bleibe stattdessen mit deiner Aufmerksamkeit im Körper, atme weiter und erlaube dem Gefühl da zu sein und sich auszudrücken – eventuell inklusive Zittern, Tränen oder was sich sonst zeigt.
#4 – Beobachten, was passiert
Atme tief ein und aus, während du das Gefühl da sein lässt. Gehe mit deiner Aufmerksamkeit immer wieder zurück in den Körper zu deinem Gefühl. Beobachte, wie es sich verändert, wenn du es eine Zeitlang bewusst gefühlt hast. Nimm wahr, wie es nach einiger Zeit einfach abebbt. Und mache dir dann bewusst: alles ist in Ordnung, es geht dir gut!
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