Storytelling: Unterbewusstes schlägt Fakten-Argumente
„Olé“, schrien 80.000 begeisterte Zuschauer bei jedem Sprung. Und nachdem der schlaksige Richard Douglas Fosbury mit seiner merkwürdigen Technik 2,24 Meter überquert hatte, feierte ihn die verwunderte Menge als Olympiasieger im Hochsprung. Was 1968 in Mexiko City geschah, war ein Revolution. Und zwar eine, die zur seltenen Sorte „gewaltfrei“ gehört, keine Gegenbewegung auslöste und nicht auf dem Schuttablageplatz der Zeit landete. Ob Dick Fosbury nur deshalb in einer Kurve anlief, weil ihm beim Training im heimischen Garten ein Baum im Wege stand, ist vielleicht nur eine Legende. Fest steht jedoch, dass er mit seiner Größe von 1.93 Meter als Koordinations-Depp galt und mit dem Scherensprung ebenso wenig klar kam wie mit dem Straddle. Und wenn konventionelle Techniken dem erwünschten Resultat im Wege stehen, spricht wenig dagegen, nach neuen Ausschau zu halten. Da in den Reglementen kein Paragraf zu finden war, der das Überqueren der ominösen Latte im Rückwärtsgang untersagte, konnte man Fosbury den Sieg nicht verwehren. Obwohl die Ärzte vor Genickbrüchen warnten, begann bei der Konkurrenz nun das große Umlernen. Zwanzig Jahre später sagte Carlo Thränhardt, der einzige deutsche 2,40-Meter-Springer: „Fosbury hat mein Leben verändert. Ohne ihn wäre ich nie zum Hochsprung gekommen.“ Ob ein einzelner Fachartikel im E-Mail Marketing Forum das Leben der Leser ebenfalls verändert, wage ich zu bezweifeln. Aber falls Ihre Konkurrenz die folgenden Anregungen bereits beherzigt, könnte es durchaus sein, dass Ihnen keine andere Wahl bleibt als nachzuziehen. Vor allem, wenn Sie der Wissenschaft mehr Gewicht zumessen als persönlichen Geschmacksfragen oder traditionellen Lehrbüchern. Denn seit Neurologen dem Gehirn beim Arbeiten zuschauen können, wissen wir endlich, wie der Mensch Informationen aufnimmt, speichert und abruft. Daher hat einen Wettbewerbsvorteil, wer diese Erkenntnisse anwendet.
Wettbewerbsvorteil Orientierung an Neurologie
Beginnen wir mit der Frage, was die Hirnforscher denn so Aufregendes zu berichten haben, dass einige sogar das Wort „Revolution“ in den Mund nahmen. Die eher überraschende Antwort lautet: „Nichts, was im Deutschunterricht vielleicht ebenfalls zur Sprache kam. Denn Altmeister Goethe ließ den Teufel im Faust behaupten: „Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.“ Und das heißt in weniger poetischer Sprache: Es sind die unbewusst arbeitenden Hirnareale, die menschliches Verhalten steuern. Aber weil wir Künstlern weniger vertrauen als Wissenschaftlern, dauerte es über 200 Jahre, bis die Revolution beginnen konnte. Oder um Fosbury wieder ins Spiel zu bringen: Nur wer der Vernunft den Rücken zuwendet, wird künftig auf dem Podest stehen. Zumindest beim Anlauf. Für Marketingaktivitäten bedeutet dies: Mit unbewusst wirkenden Instrumenten zum Kauf verführen, danach die getroffene Entscheidung mit Argumenten, Zahlen, Fakten und anderen beliebten Spielzeugen der Vernunft legitimieren. Was das im Einzelnen für die Praxis bedeutet, wird inzwischen unter dem Begriff „Neuromarketing“ abgehandelt. In einem E-Mail Forum macht es wenig Sinn, auf alle Folgen dieser Marketing-Revolution einzugehen. Zumal dies bedeuten würde, zuerst zahllose Widerstandnester ins Visier zu nehmen. Die Eingrenzung auf E-Mails fällt mir auch deshalb leicht, weil die Hirnforscher unter anderem herausfanden, wie das menschliche Gehirn komplexe Informationspakete verarbeitet. Kleines Zwischenstück: In unserem Zusammenhang nennen wir ein Informationspaket „komplex“, wenn sich sein Inhalt wegen seiner vielen Einzelkomponenten und deren Wechselwirkungen nicht eindeutig definieren lässt. Und das ist ganz schnell der Fall, wenn Menschen im Spiel sind. Und nun kommt’s: Es gilt als Geniestreich der Evolution, solche Pakete als Geschichten zu verpacken.
Altbekannte Geschichten funktionieren am besten
Um Herrn Fosbury erneut zu bemühen: Nur den Rückwärtsgang einzulegen, reicht nicht, um den höchsten Sprung zu machen. Für die Überquerung der Latte braucht es auch die richtige Technik. Daher stellt sich ein E-Mail-Marketer zu Recht die Frage, welchen Geschichten das Unbewusste besonders viel Aufmerksamkeit schenkt. Und diese Frage lässt sich tatsächlich beantworten, weil auch das neuronale Datenverarbeitungssystem „Gehirn“ zum effizienten und zuverlässigen Arbeiten gewisse Regeln braucht. Welche das sind, lässt sich zum Beispiel herausfinden, indem wir nach den Gemeinsamkeiten guter Geschichten suchen, wobei „gut“ nicht politisch korrekt, ethisch vertretbar oder literarisch hochstehend gemeint ist. Eine gute Geschichte in meinem Sinn kommt beim gewünschten Publikum an und wird weitererzählt. Wenig überraschend kennen Steven Spielberg, George Lucas und andere erfolgreiche Drehbuchschreiber oder Regisseure die Bibel, Grimms Märchen, Tausend und eine Nacht sowie weitere bekannte Geschichtensammlungen. Denn wie Goethe und Shakespeare schon wussten, wurden alle guten Geschichten schon einmal geschrieben. Es geht also „nur“ darum, eine neue Variante zu finden. Das haben sich ja auch die Nachfolger von Dick Fosbury zu Herzen genommen. Originalität um jeden Preis ist daher kein gutes Rezept. Worum es bei einer erfolgreichen E-Mail geht, lässt sich auch mit der Schach-Metapher erklären. Zur Pflicht gehört es, alle Spielfiguren zu kennen, deren Gewichtung, die möglichen Spielzüge und die besten Eröffnungen. Danach folgt die Kür mit unzähligen Varianten. Big Data-Analysen und Hightech-Geräte der Hirnforscher lassen inzwischen diejenigen alt aussehen, die noch immer behaupten, was „gut“ sei, könne nur der persönliche Geschmack beantworten.
Orientierung an Verhaltensmustern
In jedem Spiel bleibt ja natürlich noch viel Platz für persönliche Vorlieben, Gewohnheit und biografische Prägungen. Zudem haben die Hirnforscher dem Menschen ja keine neuen Verhaltensmuster angedichtet. Und aufmerksame Beobachter, die Menschen so sehen, wie sie sind und nicht wie sie sein sollen, machen intuitiv ohnehin vieles richtig. Sie müssen ihre Lehrbücher daher nicht gleich einstampfen, sondern lediglich mit einigen Randbemerkungen versehen. Zum Beispiel mit dem Aufruf, noch stärker als bisher auf Anfang und Ende zu achten, was eventuell zum Weglassen von Befehlssätzen oder Drohungen im PS führt. Sie können an passender Stelle einfügen, dass Geschichten, die an Kindheit, Pubertät und Ersterlebnisse erinnern, besonders tiefe Spuren hinterlassen. Die Suche nach dem USP könnte in Heldensuche umbenannt werden, was ganz nebenbei zur Folge hat, sich mehr um potentielle Feinde zu kümmern. Das Stichwort „Andockstelle“ würde dazu motivieren, nach Geschichten im kulturellen Gedächtnis oder passenden Aktualitäten Ausschau zu halten. Und wenn irgendwo „Urthema“ steht, verwechseln Sie Episoden nicht mehr mit einer existentiellen und daher überzeitlichen Geschichte. Die Konzentration auf Wesentliches wird automatisch leichter fallen, wenn das Wort „Einfachheit“ in die Augen springt. „Olé“ wird wahrscheinlich niemand schreien, der eine E-Mail erhält, die Erkenntnisse von Hirnforschern und Drehbuchschreibern berücksichtigt. Aber wer sich dem Computer oder dem Schreibtisch rückwärts nähert, lieber verführt als belehrt und wichtige Elemente einer guten Geschichte berücksichtigt, löst mit seiner E-Mail zumindest kleine Begeisterungsstürme im Stillen aus. Viel Erfolg beim Finden und Erfinden einer guten Variante bereits bekannter Erfolgsgeschichten. Weitere wertvolle Tipps zum Storytelling finden Sie im Crashkurs Storytelling Grundlagen und Umsetzungen von Werner T. Fuchs 2. Auflage, aktualisiert und erweitert Haufe-Lexware Verlag, Freiburg/München, 2018 224 Seiten, broschiert, 24.95 Euro ISBN 978-3-648-11700-2