Onlinehandel: Die Rendite liegt im Backend
Im Onlinehandel sind Wachstumsraten von 30 Prozent und mehr noch keine Seltenheit. Wenn Unternehmen bestehen wollen, müssen Systeme, Prozesse und die Unternehmensorganisation optimal aufeinander abgestimmt werden.
Wenn ein Kunde bei einem Onlinehändler anfragt, wo denn eigentlich seine Bestellung geblieben ist, löst dies innerhalb des Unternehmens nicht selten eine lange Kommunikationskette aus. Die Hotline hat keine Informationen und schreibt an den Vertriebsinnendienst. Der wiederum wendet sich an das Lager. Von dort geht eine Mail an die Buchhaltung. Bei entsprechender Unternehmensgröße kommt so schnell eine Kette von acht E-Mails zusammen. Bei einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von fünf Minuten pro Mail sind für eine harmlose und häufig vorkommende Anfrage schon insgesamt 40 Minuten Arbeitszeit verbrannt.
Während bei wenigen Sonderfällen pro Jahr etablierte Workarounds vielleicht noch toleriert werden können, gelangen Händler in Hochphasen wie Weihnachten oder in Zeiten rasanten Wachstums rasch an ihre Grenzen. Zumal die schlecht organisierte Kommunikationskette ja meist nicht der einzige Bremsklotz im Unternehmen ist. Weil viele Unternehmen schleichend wachsen, ist die Gefahr groß, neue Anforderungen über manuelle Workarounds zu lösen, die sich wie Klärschlamm im Unternehmen ablagern.
So mag die allseits beliebte Excel-Liste ausreichen, wenn zusätzlich zum Onlineshop noch eine Marktplatz-Anbindung gepflegt werden muss. Werden daraus aber irgendwann sieben Kanäle, ist eine Nachpflege bei falschen Informationen oder die Herausnahme eines Produktes, beispielsweise am Ende seines Lebenszyklus oder auf Grund eines Rückrufes, eine mittelschwere Herausforderung.
Wer im Onlinehandel profitabel wachsen oder seine Margen steigern will, darf nicht für jeden Euro Mehrumsatz eine entsprechende Anzahl neuer Mitarbeiter einstellen. Vielmehr sollte das Ziel sein, mit der gleichen Mannschaft mehr Umsatz zu erwirtschaften. Dies funktioniert allerdings nur, wenn Systeme, Prozesse und die Organisation effizient aufeinander abgestimmt sind. Wer stattdessen mit fleißigen Händen zu wachsen versucht, stößt irgendwann an organisatorische Grenzen, riskiert überforderte Mitarbeiter und unzufriedene Kunden und scheitert spätestens an der Anforderung, Kunden in Echtzeit mit den richtigen Infos zu den passenden Produkten zu überzeugen.
Wer erfolgreich wachsen will, muss Prozesse und mögliche Bruchstellen von Anfang an skalierbar andenken – oder sich zumindest bewusst zu sein, dass ab einem bestimmten Wachstum daran gearbeitet werden muss. Und auch in bereits etablierten Unternehmen, die ihr Wachstum nicht proaktiv vorbereitet haben, rechnet es sich meist sehr schnell, in die System- und Prozessoptimierung für ein skalierbares Geschäft zu investieren, bevor einem die manuellen Workarounds über den Kopf wachsen.
Onlinehändler, die ihre Datenflüsse effizienter gestalten wollen, müssen in der Regel vier Hauptströme betrachten und optimieren: Auftragsfluss, Warenfluss, Informationsfluss und Geldfluss. Ein Beispiel: Bei der Auftragsabwicklung ist es kein seltenes Phänomen, dass ein Auftrag im System von der Auftragserfassung bis zur -abwicklung bis zu vier Mal angefasst und manuell um Informationen ergänzt wird. Doch wer profitabel wachsen will, muss unproduktive Tätigkeiten aus der Prozesskette herausnehmen und automatisieren. In der Praxis heißt das: In dem Moment, in dem ein Auftrag angelegt wird, werden alle Daten vollumfänglich für Folgeprozesse erfasst – ob nun durch den Kunden oder zusätzliche Prüfungen beziehungsweise Berechnungen. Das allerdings setzt voraus, dass der Datenfluss inklusive aller Sonderfälle im Detail analysiert, sämtliche erforderlichen Informationen genauestens erfasst und dann dazu systemseitig Lösungen gefunden werden. Zudem muss definiert werden, wer organisatorisch und systemseitig die Hoheit über die Daten besitzt. Das erhöht die Produktivität in Folgeprozessen und sorgt für motiviertere Mitarbeiter, die ihre Zeit vermehrt in wertschöpfendere Tätigkeiten investieren können.
Dasselbe gilt beim Thema Kundendaten. In vielen Unternehmen sind diese in diversen System abgespeichert – im ERP, im Newsletter-Tool, im Kundenservice-Tool, auf der Website, im Shop, in der Warenwirtschaft, im CRM oder im Ticketmanagement – mit unterschiedlichen Möglichkeiten, diese anzureichern und zu modifizieren. Das führt oft zu Inkonsistenzen und verhindert den häufig angestrebten 360-Grad-Blick auf den Kunden. Wer Kunden clustern und individuell ansprechen will, beispielsweise um kanalübergreifend seine Top-Kunden zu ermitteln oder Betrugsszenarien vorzubeugen, muss nun mal einen vollumfänglichen Blick auf diese werfen können.
Vor der Herausforderung einer ganzheitlichen Kundenbetrachtung stand beispielsweise ein Modehändler, der Kunden die Bezahlung per Rechnung anbieten wollte. Das dafür notwendige sogenannte „Scoring“ ließe sich natürlich an externe Dienstleister outsourcen. Doch häufig wissen gerade große Händler viel mehr über die Bonität ihrer Stammkunden als so manche Auskunftei. Dieses Wissen lässt sich allerdings nur nutzen, wenn alle Daten systematisch an einer zentralen Stelle zusammengeführt und dort weiter gepflegt werden. Systemseitige Dublettenabgleiche bringen oft überraschende Erkenntnisse und Optimierungspotenziale ans Tageslicht.
Ein weiteres Sammelbecken für Klärschlamm sind Produktdaten. Um profitabel skalieren zu können, muss jeder Mitarbeiter im Unternehmen zu jeder Zeit dieselben aktuellen und möglichst vollständigen Daten zu einem Produktstamm einsehen können. Dass beispielsweise der Kundenservice seine Zubehörlisten für Waschmaschinen in Excel-Listen pflegt, wird damit zum No-Go. Zwar mag dieser es noch mit vergleichsweise hohem Aufwand schaffen, kompatible Ersatzteile auch dann noch richtig zuzuordnen, wenn ein neues Modell eingeführt wird. Doch im Zeitalter der Digitalisierung wäre es natürlich sinnvoll, diese Ersatzteile auch im Onlineshop anzubieten. Dies wird jedoch unmöglich, wenn sie in einem separaten System ohne Kopplung zu einem zentralen Produktstamm gepflegt werden.
Zumal die digitale Welt weiter an Komplexität zulegen wird. Immer mehr Kunden kaufen beispielsweise individualisierte Produkte. Und auch das Pricing von Produkten ändert sich nicht mehr saisonweise. Bei großen Anbietern wie Amazon oder Zalando ist es längst der Standard, dass die Preise mehrmals täglich angepasst werden. Darauf müssen sich Onlinehändler mit ihren Systemen und Prozessen vorbereiten, wenn sie zukunftsfähig bleiben wollen.
Genauso wie Onlinehändler ihre Datenflüsse im Detail analysieren müssen, müssen sie auch ihre Prozesse ganzheitlich betrachten und auf den Prüfstand stellen. Wer nicht geregelt hat, dass die Logistik rechtzeitig informiert wird, wenn die Marketing-Abteilung eine große Abverkaufskampagne im Webshop plant, muss sich nicht wundern, wenn diese anschließend aufgrund der unerwartet hohen Bestellmengen implodiert.
In Schwierigkeiten brachte sich jüngst auch ein Onlinehändler, der plötzlich nicht mehr nur B2C- sondern auch B2B-Kunden belieferte, dabei allerdings vergaß, den Support darüber zu informieren. Doch weil Profianwender ganz andere Fragen stellen als Endkunden, waren die Hotline-Mitarbeiter mit den neuen Anrufern heillos überfordert – und Business-Kunden vom schlechten Kundenservice enttäuscht.
Auch die Kanalverknüpfung zum Omnichannel-Anbieter erfordert häufig vollkommen neue Prozesse. Mit Click and Collect beispielsweise greifen Händler erstmals kundeninduziert in die etablierten Beschaffungsprozesse ein. Retailer müssen klären, ob Online-Bestellungen, die stationär abgeholt werden sollen, aus der Filiale, einem nahegelegenen Nachschublager, dem Zentrallager oder gar vom Lieferanten in das Ladengeschäft geliefert werden sollen. Für sämtliche Varianten müssen Prozesse und Regeln definiert werden. Zudem müssen Lösungsansätze wie dezidierte Bestände oder flexible eiserne Reserven gefunden werden, wenn Kanalkonflikte drohen und Ware gleichzeitig stationär und online gebraucht wird.
„Retail is Detail“, sagte schon der 1918 geborene Walmart-Gründer Sam Walton. 100 Jahre später ist sein Bonmot gültiger denn je – auch im Backend. Denn was passiert, wenn Händler dies ignorieren, brachte 2015 der damalige Telefonica-Chef Thorsten Dircks auf dem Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“
Wer seine Datenflüsse und Prozesse analysiert, definiert und optimiert hat, kommt fast unweigerlich an den Punkt, neue Systeme anschaffen zu müssen. Zu den häufigsten Lösungen auf der Einkaufsliste stehen eine neue Shop-Software, die für Peak-Zeiten skalierbar ist, Internationalisierung beherrscht und auch eine Anbindung an Marktplätze erlaubt, ein PIM-System zur zentralen Produktdatenverwaltung, ein CRM-System für eine ganzheitliche Kundensicht, Webservices zum automatisierten Datenaustausch per Schnittstelle und ein Ticketsystem für die Kundenbetreuung.
Doch da stellt sich meist schon das nächste Problem. Denn viele Systeme aus der alten Welt, allen voran das ERP, kommen mit der Komplexität der digitalisierten Welt nicht mehr klar und unterstützen die erforderlichen Prozesse nicht. Das ERP für eine systemseitige Kommunikation mit Drittsystemen zu öffnen und um neue Funktionalitäten zu ergänzen, erscheint den Unternehmen allerdings gefährlich, weil sie um die Update-Fähigkeit fürchten oder lizenzrechtliche Probleme bekämen.
Eine Lösung aus dem Dilemma bietet häufig nur eine Middleware, die eine Kanalvielfalt sicherstellen kann und anschließend die Daten wieder für das ERP, beispielsweise SAP, bündelt. Dabei existieren unterschiedliche Lösungen, vom Kanal-Multiplikator bis hin zum „E-Commerce-ERP“ mit vollständiger Abbildungsmöglichkeit aller wichtigen Prozess- und Informationsketten. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den eigenen Bedarf genau zu analysieren – gerade im Kontext weiteren Wachstums – und eine auf Jahre hinweg passende Lösung zu finden. Angesichts der Vielfalt an solchen Lösungen keine leichte Aufgabe.
Und auch wenn so mancher Unternehmenschef schlucken wird, wenn das allmächtige SAP seine Preisführerschaft an ein vermeintlich neumodisches Repricing-Tool abgibt: Einen anderen Weg, um nicht nur das Wachstum zu managen, sondern auch die eigene Überlebensfähigkeit zu sichern, gibt es häufig nicht.
Der Autor:
Martin Himmel ist Mitgründer der ecom consulting GmbH. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker ist erfolgreicher Berater für E-Commerce-Umsetzungen in Deutschland und Dozent mit aktivem Lehrauftrag an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mosbach.
Wenn ein Kunde bei einem Onlinehändler anfragt, wo denn eigentlich seine Bestellung geblieben ist, löst dies innerhalb des Unternehmens nicht selten eine lange Kommunikationskette aus. Die Hotline hat keine Informationen und schreibt an den Vertriebsinnendienst. Der wiederum wendet sich an das Lager. Von dort geht eine Mail an die Buchhaltung. Bei entsprechender Unternehmensgröße kommt so schnell eine Kette von acht E-Mails zusammen. Bei einer durchschnittlichen Bearbeitungszeit von fünf Minuten pro Mail sind für eine harmlose und häufig vorkommende Anfrage schon insgesamt 40 Minuten Arbeitszeit verbrannt.
Während bei wenigen Sonderfällen pro Jahr etablierte Workarounds vielleicht noch toleriert werden können, gelangen Händler in Hochphasen wie Weihnachten oder in Zeiten rasanten Wachstums rasch an ihre Grenzen. Zumal die schlecht organisierte Kommunikationskette ja meist nicht der einzige Bremsklotz im Unternehmen ist. Weil viele Unternehmen schleichend wachsen, ist die Gefahr groß, neue Anforderungen über manuelle Workarounds zu lösen, die sich wie Klärschlamm im Unternehmen ablagern.
So mag die allseits beliebte Excel-Liste ausreichen, wenn zusätzlich zum Onlineshop noch eine Marktplatz-Anbindung gepflegt werden muss. Werden daraus aber irgendwann sieben Kanäle, ist eine Nachpflege bei falschen Informationen oder die Herausnahme eines Produktes, beispielsweise am Ende seines Lebenszyklus oder auf Grund eines Rückrufes, eine mittelschwere Herausforderung.
Wer im Onlinehandel profitabel wachsen oder seine Margen steigern will, darf nicht für jeden Euro Mehrumsatz eine entsprechende Anzahl neuer Mitarbeiter einstellen. Vielmehr sollte das Ziel sein, mit der gleichen Mannschaft mehr Umsatz zu erwirtschaften. Dies funktioniert allerdings nur, wenn Systeme, Prozesse und die Organisation effizient aufeinander abgestimmt sind. Wer stattdessen mit fleißigen Händen zu wachsen versucht, stößt irgendwann an organisatorische Grenzen, riskiert überforderte Mitarbeiter und unzufriedene Kunden und scheitert spätestens an der Anforderung, Kunden in Echtzeit mit den richtigen Infos zu den passenden Produkten zu überzeugen.
Wer nicht wachsen will, nimmt Excel
Wer erfolgreich wachsen will, muss Prozesse und mögliche Bruchstellen von Anfang an skalierbar andenken – oder sich zumindest bewusst zu sein, dass ab einem bestimmten Wachstum daran gearbeitet werden muss. Und auch in bereits etablierten Unternehmen, die ihr Wachstum nicht proaktiv vorbereitet haben, rechnet es sich meist sehr schnell, in die System- und Prozessoptimierung für ein skalierbares Geschäft zu investieren, bevor einem die manuellen Workarounds über den Kopf wachsen.
Onlinehändler, die ihre Datenflüsse effizienter gestalten wollen, müssen in der Regel vier Hauptströme betrachten und optimieren: Auftragsfluss, Warenfluss, Informationsfluss und Geldfluss. Ein Beispiel: Bei der Auftragsabwicklung ist es kein seltenes Phänomen, dass ein Auftrag im System von der Auftragserfassung bis zur -abwicklung bis zu vier Mal angefasst und manuell um Informationen ergänzt wird. Doch wer profitabel wachsen will, muss unproduktive Tätigkeiten aus der Prozesskette herausnehmen und automatisieren. In der Praxis heißt das: In dem Moment, in dem ein Auftrag angelegt wird, werden alle Daten vollumfänglich für Folgeprozesse erfasst – ob nun durch den Kunden oder zusätzliche Prüfungen beziehungsweise Berechnungen. Das allerdings setzt voraus, dass der Datenfluss inklusive aller Sonderfälle im Detail analysiert, sämtliche erforderlichen Informationen genauestens erfasst und dann dazu systemseitig Lösungen gefunden werden. Zudem muss definiert werden, wer organisatorisch und systemseitig die Hoheit über die Daten besitzt. Das erhöht die Produktivität in Folgeprozessen und sorgt für motiviertere Mitarbeiter, die ihre Zeit vermehrt in wertschöpfendere Tätigkeiten investieren können.
Dasselbe gilt beim Thema Kundendaten. In vielen Unternehmen sind diese in diversen System abgespeichert – im ERP, im Newsletter-Tool, im Kundenservice-Tool, auf der Website, im Shop, in der Warenwirtschaft, im CRM oder im Ticketmanagement – mit unterschiedlichen Möglichkeiten, diese anzureichern und zu modifizieren. Das führt oft zu Inkonsistenzen und verhindert den häufig angestrebten 360-Grad-Blick auf den Kunden. Wer Kunden clustern und individuell ansprechen will, beispielsweise um kanalübergreifend seine Top-Kunden zu ermitteln oder Betrugsszenarien vorzubeugen, muss nun mal einen vollumfänglichen Blick auf diese werfen können.
Vor der Herausforderung einer ganzheitlichen Kundenbetrachtung stand beispielsweise ein Modehändler, der Kunden die Bezahlung per Rechnung anbieten wollte. Das dafür notwendige sogenannte „Scoring“ ließe sich natürlich an externe Dienstleister outsourcen. Doch häufig wissen gerade große Händler viel mehr über die Bonität ihrer Stammkunden als so manche Auskunftei. Dieses Wissen lässt sich allerdings nur nutzen, wenn alle Daten systematisch an einer zentralen Stelle zusammengeführt und dort weiter gepflegt werden. Systemseitige Dublettenabgleiche bringen oft überraschende Erkenntnisse und Optimierungspotenziale ans Tageslicht.
Ein weiteres Sammelbecken für Klärschlamm sind Produktdaten. Um profitabel skalieren zu können, muss jeder Mitarbeiter im Unternehmen zu jeder Zeit dieselben aktuellen und möglichst vollständigen Daten zu einem Produktstamm einsehen können. Dass beispielsweise der Kundenservice seine Zubehörlisten für Waschmaschinen in Excel-Listen pflegt, wird damit zum No-Go. Zwar mag dieser es noch mit vergleichsweise hohem Aufwand schaffen, kompatible Ersatzteile auch dann noch richtig zuzuordnen, wenn ein neues Modell eingeführt wird. Doch im Zeitalter der Digitalisierung wäre es natürlich sinnvoll, diese Ersatzteile auch im Onlineshop anzubieten. Dies wird jedoch unmöglich, wenn sie in einem separaten System ohne Kopplung zu einem zentralen Produktstamm gepflegt werden.
Zumal die digitale Welt weiter an Komplexität zulegen wird. Immer mehr Kunden kaufen beispielsweise individualisierte Produkte. Und auch das Pricing von Produkten ändert sich nicht mehr saisonweise. Bei großen Anbietern wie Amazon oder Zalando ist es längst der Standard, dass die Preise mehrmals täglich angepasst werden. Darauf müssen sich Onlinehändler mit ihren Systemen und Prozessen vorbereiten, wenn sie zukunftsfähig bleiben wollen.
„Retail is Detail“ – auch im Backend
Genauso wie Onlinehändler ihre Datenflüsse im Detail analysieren müssen, müssen sie auch ihre Prozesse ganzheitlich betrachten und auf den Prüfstand stellen. Wer nicht geregelt hat, dass die Logistik rechtzeitig informiert wird, wenn die Marketing-Abteilung eine große Abverkaufskampagne im Webshop plant, muss sich nicht wundern, wenn diese anschließend aufgrund der unerwartet hohen Bestellmengen implodiert.
In Schwierigkeiten brachte sich jüngst auch ein Onlinehändler, der plötzlich nicht mehr nur B2C- sondern auch B2B-Kunden belieferte, dabei allerdings vergaß, den Support darüber zu informieren. Doch weil Profianwender ganz andere Fragen stellen als Endkunden, waren die Hotline-Mitarbeiter mit den neuen Anrufern heillos überfordert – und Business-Kunden vom schlechten Kundenservice enttäuscht.
Auch die Kanalverknüpfung zum Omnichannel-Anbieter erfordert häufig vollkommen neue Prozesse. Mit Click and Collect beispielsweise greifen Händler erstmals kundeninduziert in die etablierten Beschaffungsprozesse ein. Retailer müssen klären, ob Online-Bestellungen, die stationär abgeholt werden sollen, aus der Filiale, einem nahegelegenen Nachschublager, dem Zentrallager oder gar vom Lieferanten in das Ladengeschäft geliefert werden sollen. Für sämtliche Varianten müssen Prozesse und Regeln definiert werden. Zudem müssen Lösungsansätze wie dezidierte Bestände oder flexible eiserne Reserven gefunden werden, wenn Kanalkonflikte drohen und Ware gleichzeitig stationär und online gebraucht wird.
„Retail is Detail“, sagte schon der 1918 geborene Walmart-Gründer Sam Walton. 100 Jahre später ist sein Bonmot gültiger denn je – auch im Backend. Denn was passiert, wenn Händler dies ignorieren, brachte 2015 der damalige Telefonica-Chef Thorsten Dircks auf dem Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“
Mach nicht dein Pferd schneller, sondern kauf dir ein Auto
Wer seine Datenflüsse und Prozesse analysiert, definiert und optimiert hat, kommt fast unweigerlich an den Punkt, neue Systeme anschaffen zu müssen. Zu den häufigsten Lösungen auf der Einkaufsliste stehen eine neue Shop-Software, die für Peak-Zeiten skalierbar ist, Internationalisierung beherrscht und auch eine Anbindung an Marktplätze erlaubt, ein PIM-System zur zentralen Produktdatenverwaltung, ein CRM-System für eine ganzheitliche Kundensicht, Webservices zum automatisierten Datenaustausch per Schnittstelle und ein Ticketsystem für die Kundenbetreuung.
Doch da stellt sich meist schon das nächste Problem. Denn viele Systeme aus der alten Welt, allen voran das ERP, kommen mit der Komplexität der digitalisierten Welt nicht mehr klar und unterstützen die erforderlichen Prozesse nicht. Das ERP für eine systemseitige Kommunikation mit Drittsystemen zu öffnen und um neue Funktionalitäten zu ergänzen, erscheint den Unternehmen allerdings gefährlich, weil sie um die Update-Fähigkeit fürchten oder lizenzrechtliche Probleme bekämen.
Eine Lösung aus dem Dilemma bietet häufig nur eine Middleware, die eine Kanalvielfalt sicherstellen kann und anschließend die Daten wieder für das ERP, beispielsweise SAP, bündelt. Dabei existieren unterschiedliche Lösungen, vom Kanal-Multiplikator bis hin zum „E-Commerce-ERP“ mit vollständiger Abbildungsmöglichkeit aller wichtigen Prozess- und Informationsketten. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den eigenen Bedarf genau zu analysieren – gerade im Kontext weiteren Wachstums – und eine auf Jahre hinweg passende Lösung zu finden. Angesichts der Vielfalt an solchen Lösungen keine leichte Aufgabe.
Und auch wenn so mancher Unternehmenschef schlucken wird, wenn das allmächtige SAP seine Preisführerschaft an ein vermeintlich neumodisches Repricing-Tool abgibt: Einen anderen Weg, um nicht nur das Wachstum zu managen, sondern auch die eigene Überlebensfähigkeit zu sichern, gibt es häufig nicht.
Der Autor:
Martin Himmel ist Mitgründer der ecom consulting GmbH. Der Diplom-Wirtschaftsinformatiker ist erfolgreicher Berater für E-Commerce-Umsetzungen in Deutschland und Dozent mit aktivem Lehrauftrag an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Mosbach.