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2017 bietet Chancen für eine neue Redlichkeit

Wir leben in einer Zeit der Unredlichkeit. Wir benötigen eine neue Redlichkeit. Wir haben alle Chancen, müssen sie nur wahrnehmen.
Ulf D. Posé | 04.01.2017
2016 war ein Jahr der Polarisierung, der Proteste, vieles lief aus dem Ruder, Demagogen feierten fröhliche Urständ. Es hatte den Anschein, dass wir in einer Zeit verloren gegangener Werte leben. Unsere Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel forderte schon kurz vor Beginn ihrer Amtszeit am 15. November 2005, dass eine „neue Redlichkeit in die öffentliche Diskussion einziehen muss, sonst kommen wir in diesem Land nicht weiter". Eine vage Sehnsucht nach Werten drückt sich zum Beispiel in der öffentlichen Anteilnahme an der Amtsführung von Papst Franziskus aus. Dass das Leben in einer Welt ohne ethische Werte nicht das beste Leben ist, spüren wohl viele. Aber worin genau bestehen die Nachteile? Und was könnte eine Alternative sein? Welche neuen Werte wären konsensfähig, wären zukunftsfähig? Mit diesen Fragen gilt es sich zu beschäftigen, und nach Antworten zu suchen.

Spätestens seit der Spruch: „Jeder denkt nur an sich, damit ist ja an alle gedacht“ seine erfolgreiche Runde macht, ist es in unserer Kultur mit der Redlichkeit vorbei. Erziehung findet oft nicht mehr in Familien, eher vor dem Fernseher statt. Die Delegation der Erziehung an die Kindergärten oder an die Lehrer in Schulen funktioniert nicht, da hier Erziehung eher verweigert wird oder gar nicht stattfinden darf. So bleiben die Unternehmen als Kaderschmieden übrig. Und was lernen wir da? Sei opportunistisch, wenn du Karriere machen willst, schau auf den berühmten shareholder value. Kapitalmehrung scheint das einzig Wichtige zu sein. Sämtliche Werte sind inzwischen ökonomisiert, auch der Mensch ist inzwischen ökonomisiert. Die Globalisierung fordert von uns, nur noch zu schauen, wo die besten Produktionsbedingungen herrschen, wo die besten rahmenpolitischen Voraussetzungen sind, und wo wir über die Umwelt besonders billig verfügen können. Die Geburtenrate ist seit ein paar Jahren in der Bundesrepublik geringer als 1946. Kinder sind zum zu teuren Kostenfaktor geworden.
Was ist los? Wir reden von gesellschaftlicher, unternehmerischer Verantwortung und es ist kaum jemand da, der bereit ist, sie persönlich wahrzunehmen. Wir wundern uns, dass es möglich ist, mit einem Vollzeitjob weniger zu verdienen, als jemand, der nicht arbeitet.

Eine neue Unredlichkeit macht sich breit. Früher wussten Menschen noch, dass sie unredlich waren, wenn sie sich unredlich benahmen, sie hatten zumindest ein schlechtes Gewissen. Heute erleben wir eine neue Form der Unredlichkeit, in der Menschen sich völlig daneben benehmen mit dem Gefühl, das sei völlig in Ordnung.

Das Wesen der neuen Unredlichkeit ist es also, unredlich zu sein, ohne es zu bemerken. Dagegen sollten wir, müssen wir etwas tun. Wir müssen wieder Bewusstsein entwickeln für das, was unredlich ist und wir benötigen ein Bewusstsein dafür, was redlich ist.
Wie ko9nnte es soweit kommen? Spätestens seit 1903 George Edward Moore seinen Emotivismus in der Ethik entwickelte, haben wir eine Ethik der Neigungen. Es ist seitdem ethisch gut, wenn wir uns bei dem was wir tun, gut fühlen. Dieser emotionale Brei trägt einen Großteil der Verantwortung für die neue Unredlichkeit. Der zweite Aspekt ist der Hang zu einer Gesinnungsethik. Wenn meine Gesinnung eine redliche ist, dann fragen sich viele Menschen nicht mehr, ob sie diese Gesinnung auch an eine entsprechende Handlungskompetenz koppeln. So kommt es zu einer unsäglichen Paarung von gutem Gewissen und Inkompetenz. Ich richte den größten Mist an und fühle mich auch noch gut dabei. Dann haben wir drittens eine das Gewissen beruhigende Betroffenheitskultur entwickelt. Bei Lichterketten mitzumachen erscheint uns sinnvoller, als etwas konkret zu unternehmen. Manche Menschen rührt das Elend in Afrika mehr, als das Elend nebenan. So leiden wir unter Fernstenliebe; die Nächstenliebe ist auf der Strecke geblieben.

Das scheinen mir die grundsätzlichen, generellen Merkmale der neuen Unredlichkeit zu sein. Daneben haben wir europäische Formen des Cargokults entwickelt. Cargo war ein Kult aus Melanesien. Dort landeten Militärflugzeuge der Amerikaner. Sie enthielten alle wunderbaren Güter dieser Welt und schienen Geschenke des Himmels, der Ahnen zu sein. Auf den Flugzeugen stand »Cargo« (Fracht). Die Melanesier glaubten nun, wenn sie solch ein Flugzeug anbeteten, oder die Rituale der Amerikaner nachahmten, würden ihre Ahnen auch ihnen solche Flugzeuge mit diesen Gütern schicken. So bastelten sie kleine Flugzeuge aus Holz, schrieben Cargo auf den Rumpf, stellten sie in ihre Tempel und beteten sie an.
So benehmen wir uns heute auch. Wenn Unredlichkeit mein Cargo mehrt und ich von niemandem bestraft werde, dann bin ich halt unredlich. Was soll's, macht doch jeder so! So bestimmen heute Cargo-Kulte unsere Welt. Der Strom kommt halt aus der Steckdose, der neue Markt hat eine Zeitlang auf tolle Art und Weise und Vermögen vermehrt, Geld benötige ich sowieso nicht, ich habe doch eine Kreditkarte. Typisches Cargo ist das Nachäffen. Ich trage die Frisur von David Beckham und fühle wie er, ich trage die gleiche Uhr wie mein Chef, dann bin auch bald so erfolgreich wie er, wir werden abhängig von unserer Wohnungsausstattung, damit sie unser Prestige mehren hilft, unser Abendessen schmeckt uns nur noch, wenn wir es bei „unserem“ Italiener einnehmen, wer die Statussymbole nicht trägt, gehört nicht dazu. Das ist Cargo.

Was sind denn die Kennzeichen der neuen Unredlichkeit?
1. Ich verwechsle Wahrheit mit Gewissheit. ich halte meine Meinungen für wahr. Ich habe immer Recht. Motto: was stört mich Wissen, wenn ich doch schon eine Meinung habe.
2. Wir reduzieren Menschen auf ihre Funktionalität. Die Frage: „Was bringt der mir?“ zählt mehr als personale Eigenschaften, die die Nähe zu einem Menschen bestimmen sollten.
3. Es gelten nur noch die Werte Reichtum, Erfolg, Leistung und Macht. Wir übersehen immer mehr, dass das ökonomische Motiv nur eines im Motivbündel von Menschen ist, wir übersehen immer mehr Werte wie Vertrauen, Dankbarkeit, Wohlwollen, Verzeihen können.
4. Wir handeln ausschließlich politisch korrekt. Wir fragen nicht mehr danach, ob eine Handlung tatsächlich sinnvoll ist, wir fragen nur noch, ob sie politisch korrekt ist. So kommt es fast schon zu semantischen Verbrechen, wenn wir politisch korrekte Begriffe verwenden, ohne uns zu fragen, ob sich denn mit einem neuen Wort auch eine innere Haltung verändern müsste.
5. Der Werteverfall. Wir lassen uns fast ausschließlich nur noch von Werten leiten, die soziale Bestrafung verhindern. „Bloß nicht erwischen lassen“, ist das Motto.
6. Wir tun nicht mehr das, was wir sagen. Glaubwürdigkeit entsteht durch das, was wir tun, nicht durch das, was wir sagen. So geht der Vorbildcharakter verloren.


Sollte uns die wichtigste unserer Ressourcen, unsere Lebenskultur wichtig sein, dann ist eine neue Redlichkeit gefordert. Jeder von uns könnte eine Erneuerungsquelle unserer Gesellschaft sein, wenn jeder von uns sich dazu entschließt, eine neue Redlichkeit in den Mittelpunkt seines Handelns zu stellen.

Es gibt erste Anzeichen einer Neuen Redlichkeit. Solche Anzeichen sind derzeit die kollektive Ablehnung von Kriegen, der immer bewusster werdende Umgang mit der Umwelt und der Versuch, eine neue soziale Gerechtigkeit zu finden und zu formulieren.
Redlichkeit ist für mich der Anspruch eines Menschen, sich unabhängig von sozialen Systemen und deren Vorgaben sozial verträglich zu verhalten. Das muss die Messlatte sein. Damit dies gelingt, bedarf es der Erfüllung einiger Bedingungen, die eine neue Redlichkeit ausmachen werden.
Solche Bedingungen sind für mich:

1. Ich unterscheide zwischen Wahrheit und Gewissheit; und ich weiß, dass meine Erkenntnisse nicht wahr, sondern nur gewiss sind. Das führt zu einem erheblich sozial verträglicheren Umgang, als Dogmatik.
2. Ich kümmere mich um Wissenskompetenz. Wenn ich ein Wort benutze, dann habe ich nicht nur ein Gefühl, sondern ich weiß, was der Begriff bedeutet.
3. Ich glaube nicht nur einer Quelle. Ich beziehe meine Informationen nicht nur von Menschen, die meine Meinung teilen.
4. Ich handle. Das meint, ich habe vor der Handlung über die Folgen nachgedacht, ich kenne eine Alternative zu dem was ich tun will, ich habe ein Ziel, ich bin bereit, meine Handlungen zu begründen, ich habe ein konkretes Ergebnis und ich übernehme Verantwortung für die überschaubaren Konsequenzen meines Tuns, ich stehe für das, was ich tue, gerade.
5. Ich bin aufrecht, ich sage, was ich meine.
6. Ich bin verlässlich, andere können mir vertrauen.
7. ich pflege Zivilcourage. Ich bin dazu bereit, meine Werte auch gegen eine vorherrschende Meinung zu vertreten.
8. Ich pflege die Epikie, ich versuche immer nach dem Sinn, nicht nur nach dem Buchstabenlaut einer Verordnung zu handeln.
9. Ich pflege die kritische Gerechtigkeit, verfüge also über die Fähigkeit, Selbstverständliches noch in Frage stellen zu können.
10. Ich urteile realitätsnah. Ich bewahre mir den Blick für das Wesentliche.

Das scheinen mir gute Grundlagen für das Entstehen einer neuen Redlichkeit zu sein. So stellt sich, wenn wir Unredlichkeit nicht wollen, die Frage nach einer neuen Redlichkeit. Wenn wir ein Interesse an Eigenverantwortung, Selbständigkeit, Glaubwürdigkeit und einer sozial verantwortlichen Gesellschaft haben, dann können wir nicht mehr andere auffordern, dann werden wir wohl selbst Vorbild sein müssen. Es kann sein, dass wir damit scheitern, aber wir sollten doch wenigstens für eine gute Sache gekämpft haben. Genau dort sind wir persönlich gefordert, denn wenn wir auf andere warten, warten wir vielleicht auf Godot, und der kam bekanntlich nie.